Mit Filzstift zurück in die Steinzeit

von Dieter Stoll

April 2014. Man hätte schon vor der Premiere, also rein theoretisch nach Papierform, vom Zustandekommen einer annähernd idealen Projekt-Partnerschaft sprechen können: Das seit 13 Jahren von Klaus Kusenberg geleitete Schauspiel des Nürnberger Staatstheaters beauftragte den ständigen Regie-Gast Stefan Otteni mit der Zweit-Inszenierung von "Meine Bienen. Eine Schneise" des Tiroler Vielsparten-Fabulierers Händl Klaus. Die augenzwinkernde Thriller-Konstruktion des lustvoll verrätselnden Dramatikers, Filmemachers und Opernlibrettisten, dessen Gesamtschaffen ein Kritiker schon das verneinungsfrohe Generalmotto "Nix G'wies woas ma ned" – in Nordlicht-Übersetzung: "Nichts Gewisses weiß man nicht" – unterstellte, war 2012 als Salzburger Auftragswerk inklusive Mitwirkung der zehnköpfigen Franui Musicbanda und eines Wiltener Sängerknaben ausdrücklich unter der Marke Musiktheater in Umlauf gesetzt worden. Reich bestückt mit illustrierenden, konkurrierenden und überstülpenden Klängen, die von schräg gestellter Volkstümlichkeit bis zu Alban Bergs Kunstliedern reichten.

Verkappte Zweit-Uraufführung

Sie wurden als gleichberechtigt eigenständige Stimme einer Virtuosen-Partitur wahrgenommen, die das mit Krimi-Versatzstücken und Symbolismus-Schablonen spielende Stück letztlich ja ist: Nach einem Attentat auf Wald und Bienenstöcke wird die Schneise der Gewalt jener Natur-Tatort, auf dem sich rätselhafte Figuren mit energisch auf ihrer Undurchsichtigkeit bestehenden Verwandtschaftsverhältnissen treffen: Imker und Inspektor, Frau und Sohn. Letzterer das besondere Objekt der literarischen Begierde als "ein Kind, das in der Stadt entstanden ist, am Land erzogen“ und nun auf zorngebeutelter Suche nach dem Vater das Unglück feiert.

Reichte die Reaktion von Publikum und Kritik nach der Uraufführung im Salzburger Landestheater von der Bewunderung für die "Innerlichkeit der Sprachkomposition" bis zur Beschimpfung als "süßlich breiiger Quatsch", war also kaum miteinander versöhnbar, so schuf der Nürnberger Nach-Regisseur mit festem Zugriff gleich mal eine andere Ausgangssituation. Otteni, der hier zuvor bei Jelineks "Kontrakte des Kaufmanns" und Handkes "Immer noch Sturm" höchst erfolgreich die übergewichtige Promi-Markierung der jeweiligen Uraufführungen in eigener Sichtweise überwand, befand den musikalischen Teil als belastende Verdoppelung und schälte die Sprache wie neu verwertbaren Rohstoff aus dem Spektakel. Was dabei in den Kammerspielen des Staatstheaters Nürnberg entstand, das die Jury des Verbandes Deutscher Bühnen- und Medienverlage im Herbst 2013 für den offensiven Umgang mit zeitgenössischer Dramatik auszeichnete, ist nicht weniger als eine verkappte Zweit-Uraufführung.

<EineSchneise 700 Foto MarionBuehrle uSprachlicher Balance-Akt: Josephine Köhler, Elke Wollmann und Stefan Willi Wang  Marion Bührle

Es brummt und summt im Parkett vor Beginn der Vorstellung, obwohl die "Bienen", genauer gesagt "Meine Bienen" aus der Metaphern-Schleuder eines spät zu Wort kommenden Imkers, gegenüber dem ursprünglichen Stück-Titel gar nicht mehr vorhanden sind. Die ganze Aufmerksamkeit des Publikums wird auf vier Neandertaler in defekter Natur gelenkt, die da wie Abgesandte aus Stanley Kubricks "2001"-Endzeit kauern. "Eine Schneise" steht nun für alles, muss allein das Sinnbild für Verwüstung und Befreiung repräsentieren. Der Waldbrand, um den sich alsbald ein echter Inspektor kümmern wird, hat einen Baum gefällt und die Fototapete mit Aussicht zerfetzt. Auf dem verkohlten Stamm hocken nun die Urmenschen im Nacktheit simulierenden Body-Strampler und lassen textile Geschlechtsmerkmale baumeln. Fröhliche Steinzeit mit verdächtiger Sprachlehre, denn das haarige Quartett sprintet, sobald es schwarze Plastikfetzen aus bereitstehenden Müllsäcken als kalte Asche ausgebreitet hat, in wortportionierten Stafetten-Dialogen durch jederzeit für die Vermutung von Poesie offene Handlung. So ist das beim beschworenen "Sprachkörper", den Autor Händl Klaus bodybuildet. Die Darsteller können ihre Anteile vom Gesamtkunstwerk in hauchdünnen Scheiben abschneiden, sofern die Worte nicht zuvor als Konfetti verregnen.

Fototapete als süffisante Naturbehauptung

Die allein erziehende Kathrin, gewaltfrei schwadronierende Lehrerin ("Man gönnt mir, dass ich lebe") und urmütterlich im pädagogischen Ausnahmezustand, hat ihr pubertätsfrohes Stadt-Kind Lukas in die Natur verschoben. Dort lernt der Knabe von Herzen hassen, was er ohne Verstand lieben soll. Während im Vordergrund das Gemisch aus gehäckselten Spurenelementen von Tatort-Krimi und Familiendrama in dramaturgisch zuckende Bewegung gerät, übermalt er hinten den Natur-Prospekt von Ausstatterin Anne Neuser mit Filzstift. Waldsterben in Handarbeit. Er braucht keine Idylle, er will gefälligst einen autoritären Vater. Jeder Mann, der fortan auftritt, wird auf diese Rolle festgenagelt – also reichen zwei ergebnisfreie Test-Beispiele. Erst der auf Halbsätze mit Silben-Kauen spezialisierte Inspektor, dann der bis zum letzten Bienenvolksaufstand revolutionäre Imker: "Mein Tier ist die Milbe". Die beim Wort "Urinstinkt" etwas desorientierte Mutter ("Wer sich wäscht, verrät sich") lächelt nachsichtig und verrät gar nichts.

Die vorausmenschelnden Urviecher hatten übrigens, sobald die Handlung als Fragment erkennbar wurde, ihre zivilisatorische Haut per Hemd und Hose übergestreift. Keineswegs endgültig, denn ein Rückfall ins Archaische liegt ständig wie ein Kampf-Grunzen in der Luft. Da lässt Regisseur Stefan Otteni nicht locker. Sein erster Blick auf das "Schneisen"-Stück des eigenwilligen Autors, den er samt seiner artifiziellen Wortspiel-Artistik schon lange schätzt und deshalb gespannt verfolgt, war von Zweifeln geschüttelt. Was er in Salzburg sah, schien ihm in dieser mit großem Aufwand betriebenen gegenseitigen Befeuerung von klingender Sprache und aufbrausender Musik hochproblematisch, nämlich "ein verdoppelnder Effekt, der den Kern des Textes überwuchert". Er wollte mit seiner Ästhetik der ironisch gelenkten, nah ans Publikum gerückten Künstlichkeit (von der Fototapete als süffisante Naturbehauptung bis zur Knaben-Besetzung mit einer hosenrollenkundigen Komödiantin) zurück zum Konzentrat. Sein diesbezüglicher Konzept-Vorschlag an Nürnbergs Schauspielchef kam sowieso erst da ins Spiel, die Salzburger Version hätte wohl keine zweite Chance bekommen.

Die Inszenierung hat das Werk also abgerüstet. Sie traut dem Text in seiner seifenbläserischen Leichtigkeit so sehr, dass sie den Konkurrenz-Sound wohl als Belastung sah. So etwas wie eine "Sprech-Oper" sollte es trotzdem sein, also Jandl-Ahnung mit Orff-Aroma im Trockenkurs, und das führt in der Absurdität hochgeschraubter Hörbilder zu den kurzweiligsten Momenten auf der Satzbaustelle. Die Magie der Händl-Klaus-Festspiele blinkt manchmal wie ein Flipper, wenn etwa das "von Haus aus verunglückte Kind", dem das Vernichtungs-Szenario "ein köstliches Ereignis" ist, mit Worten wie "Ich bin insgesamt bedrückt" ungefähr dort landet, wo Bully Herbig seinerzeit die Unzufriedenheit mit der indianischen Gesamtsituation beschwor.

Unschlagbare Dialog-Staffel

Dass der Zuschauer, der als Hörer besonders gefordert ist, lieber nicht dem Detail-Sinn jedes Placebo-Merksatzes hinterher hecheln, also eher auf flächige Wirkung setzen sollte, lernte auch der Regisseur. Wie man hört, hat er einmal während der Proben den Autor mit der Verzweiflungsfrage angerufen, wie – verdammt nochmal – er denn eine bestimmte Formulierung gemeint habe. Händl Klaus wird sich wohl nicht festgelegt haben, segnete die Nürnberger Fassung aber ab und war bei der Premierenverbeugung bester Laune.

Vier Nürnberger Darsteller sind mit Stefan Ottenis spielerischer Sicht auf das entkernte Musiktheater aufgeladen. Die Rolle des vaterlosen Sohnes erobert sich gesangsfrei Josephine Köhler, indem sie dem Knaben erst mal wie Karl Valentins Liesl Karlstadt auf Speed eine unverschämt frech hingefetzte Firmlings-Basis gibt. Elke Wollmann und Stefan Willi Wang (Mutter und Inspektor) sind in der Dialog-Staffel unschlagbar zwischen Start und Ziel. Thomas Nunner setzt den Imker mit dem Groll auf Bienen und dem Herzschlag für den Niedergang geradezu gemütlich dagegen. Ganz im Sinne der Otteni-Regie, die sich nach ihrer spröden Orientierungsphase und dem gefundenen Spaß am veroperten Wort ein schäkerndes Finale gönnt. Wenn die Mutter nach der Kindsvertreibung aus dem Paradies grade nochmal Luft holt zur großen Erwiderung, vielleicht zur Klärung der offenen Frage, wo denn nun die Bienen sind, schneidet ihr ein Blackout die Existenz ab. Könnte ein barbarischer Rückfall in die erste Szene sein oder Gebrauchsanweisung für die Aufführung im O-Ton des Klaus Händl, der nach Tiroler Art auch in seiner Namensnennung die Weltordnung von Vor und Nach als Händl Klaus aufhebt und kategorisch festlegt: "Der Rest ist nichts als Feingefühl".

You have no rights to post comments