Ungehörte Wahrheitssucher

von Simone Kaempf

April 2014. Der Dramatiker Lukas Bärfuss interessiert sich für Themen, die allgemein bekannt zu sein scheinen. Dinge, über die es Übereinkünfte und Konsens gibt, die klar wirken, aber mit denen er in seinen Theatertexten doch immer wieder heiße Eisen anpackt: Behindertensexualität, Sterbehilfe, christlicher Glaube. Um Erinnerungskultur und um Umgang mit Geschichte geht es in seinem jüngsten Stück "20 000 Seiten" – und ja, auch Vergangenheitsbewältigung ist tatsächlich Thema. Allerdings nicht didaktisch plump, dazu ist Bärfuss viel zu sehr versierter Dramenbauer und viel zu wenig Moralist, als dass er rein pädagogisch in die Gefilde der Aufarbeitung hinabsteigen würde.

Gefängnis, Boxring, Versuchslabor

Und doch schafft es Bärfuss, all die offenen Fragen zu Tage treten zu lassen, die noch längst nicht geklärt sind: Was bedeutet Vergangenheit eigentlich für unsere Identität? Wie viel Verantwortung trägt man für die Schuld vergangener Generationen? Aber auch: Wie viel Vergangenheit ist überhaupt zumutbar?

Wie oft in Bärfuss’ Theaterstücken gibt es auch in "20 000 Seiten" eine zentrale Hauptfigur, die mit einer komplizierten Wirklichkeit konfrontiert wird. Tony heißt er, ein liebenswürdiger Schlendrian, dem ein Umzugskarton mit 25 Büchern auf den Kopf gefallen ist. Der Inhalt hat sich in seinem Hirn abgespeichert: Wort für Wort 20 000 Seiten Bericht über die Schweiz in der Zeit des Nationalsozialismus, während der sich das Land nicht so vorbildlich verhielt wie lange gedacht. Fortan will Tony das ihm zugefallene schreckliche Wissen unter die Leute bringen und stößt doch überall auf taube Ohren: bei der Ärztin in der Psychiatrie, die ihm eine Obsession für die Vergangenheit diagnostiziert, bei seiner Freundin Lisa, die glaubt, dass er sich nur ums Erwachsenwerden drücken will. Tony geht auf Sendung bei einem Bürgerradio, wo er genauso ungehört bleibt mit seinen Erzählungen über die Menschen, die aus der Schweiz ins nazi-deutsche Verderben zurückgeschickt wurden. Und in einer Castingshow namens "Megatalent" wird er neben Elvis-Doubles und anderen Freaks als spinnerter Gedächtniskünstler präsentiert.

20000seiten 700 MatthiasHorn uWahrheitssucher: Professor Wüthrich (Anton Petzold) und Tony (André Kaczmarczyk) © Matthias Horn

Das Stück ist als Auftragswerk für das Schauspielhaus Zürich entstanden, wo es Lars-Ole Walburg im Februar 2012 mit Betonung auf den komischen Drive uraufgeführt hat. Und auch Burkhard C. Kosminskis Zweitinszenierung am Staatsschauspiel Dresden setzt ganz auf die Komik, die in der Unwahrscheinlichkeit der Ausgangssituation liegt: Dass man die Bücher auswendig kann, die einem auf dem Kopf fallen. Die überspitzten Szenen in der Castingshow oder in der Psychiatrie lässt er in einem geschlossenen Bühnenraum spielen, wie ein Sinnbild dafür, dass hier einer mit seinem Wissen gegen Wände rennt. Dieser Leitgedanke durchzieht das so raffinierte wie schlichte Bühnenbild von Florian Etti, das der eigentliche Clou von Kosminskis Inszenierung ist: Riesige weiße Holzwände fahren mal hoch, klappen dann zur Seite, erinnern an eine Gummizelle, ein Gefängnis, einen Boxring oder ein Versuchslabor. Assoziationen, die den Stationencharakter des Stücks unterstreichen.

Ein Text, der nach Dresden passt

Kosminskis Dresdener Regiearbeit, die im Januar 2014 Premiere hatte, ist bereits die dritte Inszenierung von Bärfuss’ Stück. Kurz zuvor wurde "20 000 Seiten" auch am Det Norske Teatre in Olso inszeniert – trotz Bärfuss' Versuche, den norwegischen Theatermachern das Projekt auszureden, wie er erzählt: "Ich habe nicht damit gerechnet, dass das Stück auf weiteres Interesse stößt, weil es doch um ein Stück Schweizer Geschichte geht, die kulturell situiert ist."

Bärfuss nimmt Bezug auf realen Schweizer Lokalkolorit. Tonys Berichte vom Großindustriellen, der für Hitler Waffenteile zulieferte oder von Oskar H., der in die Schweiz flüchtete, zurückgeschickt und abtransportiert wurde nach Auschwitz, stammen aus dem Bergier-Schlussbericht, der 2002 veröffentlicht wurde. Eine unabhängige Expertenkommission untersuchte das Verhalten der Schweiz in der Zeit von 1933 bis 1945. Was der historischen Wahrheitsfindung dienen sollte, geriet bald in die Schusslinie, weil die Kommission ihre Erkenntnisse angeblich nicht ausreichend zur Entlastung der Schweiz genutzt habe.

Zwar nennt Lukas Bärfuss den Bericht nicht namentlich, aber die Bezüge sind eindeutig, und auch seine Hauptfigur trifft auf eine Umwelt, die sich mit der Vergangenheits-Konfrontation schwer tut. Für Burkhard C. Kosminski passt das Stück mit seinen Fragestellungen deshalb auch gut nach Dresden, die Stadt, die für die Kriegsschrecken in Deutschland steht. In seiner Inszenierung am Staatsschauspiel hat er den Text verschlankt, Szenen gestrichen – etwas, womit er bei der Uraufführung eher vorsichtiger wäre, "bei einer Zweitaufführung kann man freier mit einem Text umgehen, kann akzentuieren und als Regisseur eine subjektivere Sicht einnehmen".

Wissen, das nicht befreit

Kosminski setzt auf schnelle Rollenwechsel, das Spiel mit Perücken und grellen Kostümen. Doch driftet das Spiel nie allein in die Komödie ab. "20 000 Seiten" wartet zwar mit einer irrealen Ausgangssituation auf, ist aber auch ein höchst reflektiertes Erörterungsstück, das sich ebenso um Identität dreht wie um Situationen, in denen Lebens-Ideen nicht mehr mit der Wirklichkeit zusammengehen.

Es sind die Schauspieler, die den schmalen Grat zwischen Witz und Ernst hervorragend meistern. Etwa Cathleen Baumann, die es sich nicht nehmen lässt, aus den fliegenden Kleiderwechseln kleine Nummern zu machen: Gleich zu Beginn referiert sie furios wittgensteinhaft, dass wir das, was wir sind, immer durch die anderen sind, die uns zu dem machen, was sie in uns sehen wollen. Oder André Kaczmarczyk, der seinem Tony eine liebenswerte Naivität verleiht, mit der er das ihm aufgebürdete Wissen nun auch den anderen zumuten will. Oder Torsten Ranft, der wechselnd in die Rollen der stoisch Ich-fixierten Casting-Bewerber schlüpft.

Mit dem zehn Jahre alten Aton Petzold hat der Regisseur wiederum glaubhaft den Forscher Wüthrich besetzt, ein kindlicher Professor, der sich Tony als seinen Nachfolger wünscht. Die Inszenierung zeigt die ganz unterschiedlichen Strategien im Umgang mit der Vergangenheit auf, und am Ende lässt sich Tony in einem wissenschaftlichen Versuch einen weiteren Karton mit Büchern auf den Kopf fallen: Kochbücher, ein Filmlexikon, ein Chinesisch-Wörterbuch, Goethe, Schiller und anderes unnützes Wissen, das ihn natürlich auch nicht befreien kann. Bärfuss bleibt als Autor immer Phänomenologe, der mehr beschreibt als dass er wertet, aber zumindest eine Botschaft ist offensichtlich: Zu vergessen und zu verdrängen, das ist auch nicht der richtige Weg.

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