Raus aus der Blase

von Friederike Felbeck

April 2014. Raija-Liisa Seilo räumt ihr Büro leer. 2008 kam Seilo ans Theater in Turku im Südwesten Finnlands, nach Helsinki und Tampere einer der drei großen Ballungsräume des Landes. Zuvor leitete sie zwölf Jahre lang das Theaterfestival von Tampere, und in all dieser Zeit war es Seilo ein wichtiges Anliegen, die Türen nach Europa zu öffnen und die Theaterszene in Finnland aus der geografischen Randexistenz hin zu internationalen Kooperationen zu bewegen. Im Jahr 2011, Turku und Tallin waren zeitgleich Kulturhauptstadt Europas, überraschte das Turkuer Stadttheater mit Gastspielen von den Rändern Europas: Seilo lud Inszenierungen aus krisengeschüttelten Ländern wie Portugal, der Türkei und der Ukraine ein.

Das Stadttheater in Turku ist eines von derzeit 46 finnischen Theatern, die eine Kombination aus staatlicher und kommunaler Förderung erhalten. Ein Gesetz, das seit 1993 in Kraft ist und die Förderung der Theater anhand der Anzahl der festen Mitarbeiter bemisst, trägt den sich verändernden Strukturen und der zunehmenden Fluktuation des künstlerischen Personals allerdings nicht ausreichend Rechnung. So engagiert das Theater im Schnitt fünfzig Gäste je Spielzeit. Die meisten davon sind Künstler. Diesen stehen hundert fest angestellte Mitarbeiter gegenüber, unter ihnen ein Großteil aus Technik und Verwaltung, was dem vergleichsweise kleinen Stadttheater wenig Spielraum für langfristige Planungen lässt.

Auch wenn es der Theaterwelt in Finnland gut geht (die Auslastung ist höher als bei Eishockey und Fußball), drohen Kürzungen und Stagnation. Die Reputation eines Landes, "where theatre strives" (Pirkko Koski) muss sich angesichts einer sich verändernden Theaterlandschaft, die im Fluss ist, neu beweisen. Notwendige Modernisierungen, die vor allem einer Wertschätzung und Integration der zahlreichen freischaffenden Künstler dienen, lassen auf sich warten. Wer Glück hat, erhält eines der begehrten staatlichen Stipendien, die für jeweils ein, drei oder fünf Jahre vergeben werden und den Künstlern durch eine monatliche Zuwendung ein kontinuierliches Arbeiten ermöglichen.

Neue finnische Dramatik als Publikumsmagnet

Ein wichtiger Schwerpunkt in Turku sind Uraufführungen von finnischen Dramatikern. In ganz Finnland zeigten die subventionierten Theater in der Spielzeit 2010/2011 230 Aufführungen von finnischen Autoren, davon allein 105 Erst- bzw. Uraufführungen, was einen Anteil von 52 Prozent aller Premieren ausmacht. "Lauluja harmaan meren laidalta" ("These little town blues are melting away") der jungen Autorin Pipsa Lonka, das in Heidelberg beim internationalen Autorenwettbewerb vorgestellt wird, ist ein Stück über einen kleinen Ort am Meer, an dem es keine Sensationen mehr gibt. Das spektakulärste, was die Gegend zu bieten hat, ist der Supermarkt. Das Meer holt sich das Land nach und nach wieder zurück – ein liebevoll und in starken Bildern erzähltes Miniatur-Finnland jenseits der großen Städte. Für das Stadttheater in Turku ist die Inszenierung ein gelungenes Beispiel, wie auch neue finnische Dramatik zum Publikumsmagnet werden kann.

Das Turkuer Stadttheater wird noch in dieser Spielzeit, ebenfalls auf Initiative Seilos, eine Limited-Gesellschaft (ähnlich einer deutschen GmbH) mit eigenem Beirat und zwei jungen künstlerischen Leitern, die vom Linnateatteri hinüberwechseln, einem kleineren, ebenfalls staatlich geförderten Turkuer Theater, und erhält damit endlich Entscheidungshoheit gegenüber der Stadtverwaltung. Das benachbarte Åbo Svenska Teater, das Schwedische Theater von Turku, firmiert quasi als Privattheater und erhält vom Staat eine Förderung in Höhe von zwei Millionen Euro. Hinzu kommen Projektmittel, die sich aus Sonderfonds für die schwedisch-sprachige Minderheit in Finnland speisen.

Kampf gegen schwindende Zuschauerzahlen

Finnland hat offiziell zwei Amtssprachen, Finnisch und Schwedisch, und unterstützt die schwedisch-sprachigen Universitäten und Kulturinstitutionen großzügig. Dick Holmström, der die Leitung des Theaters im vergangenen Jahr übernommen hat, kämpft gegen eine schwindende Zuschauerzahl. Nur etwa fünf Prozent der etwa 180.000 Einwohner von Turku sind schwedisch-sprachig.

Längst kann sich das Theater nicht mehr ausschließlich auf sein Kerngeschäft beschränken. Um das Theater am Leben zu halten, öffnet es sich für Konzerte, ein renommiertes Jazzfestival, Kleinkunst und Varieté, gemeinsame Matineen mit den Turkuer Symphonikern, hat aber auch eine Recherche über Identitäten der schwedischen Minderheit in Auftrag gegeben, die zu einem Stück zusammen wachsen soll. Ein ambitioniertes Experiment wie "Persona", eine Koproduktion mit dem Turkuer Stadttheater, die zunächst in schwedischer und danach in finnischer Sprache aufgeführt wurde, bleibt vorerst einmalig.

Plattform für politisches und zeitgenössisches Theater

Seilo und Holmström sind Vertreter einer Generation von Theaterleitern, die die traditionellen Stadttheater von innen heraus neu gestalten und herausfordern. Ein weiterer wichtiger Reformer ist der Dramatiker und Regisseur Mika Myllyaho, der erfolgreich das Finnische Nationaltheater in Helsinki umgekrempelt hat. Das Theater leistet sich fünf Hausautoren, darunter die international gefeierte Sofi Oksanen, die sich in ihren Romanen und Stücken immer wieder der Geschichte Finnlands und Estlands während des Zweiten Weltkrieges zuwendet.

Auch wenn Turku eine hohe Dichte an freien Theatern hat, die sich besonders auf Puppentheater und Neuen Zirkus spezialisiert haben, drängt sich der Großteil der Protagonisten der freien Tanz- und Theaterszene in Helsinki. Neben dem Zodiak-Center for New Dance und dem Kiasma Theater (für Live Art und Performance) braucht es mindestens einen weiteren Produktionsort, so Eva Neklayeva, die zu den prominentesten Vermittlern von freiem Theater in Finnland geworden ist.

Seit 2009 leitet die gebürtige Weißrussin den Baltic Circle. In den späten 1990ern gegründet, verweist der Name immer noch auf den ehemals programmatischen Schwerpunkt: Theater aus dem benachbarten Baltikum. Neklayeva verabschiedete sich schnell von dem rein geografischen Kurat hin zu einer Plattform für politisches und dezidiert zeitgenössisches Theater, das vom Festival selbst initiiert und produziert wird. Der Baltic Circle ist heute Mitglied in zahlreichen Netzwerken, die den in Helsinki entwickelten Inszenierungen international zu einem langen Tourneeleben verhelfen. Auf nationaler Ebene fällt das schwer – es gibt bislang kein Förderinstrument für Finnland-weite Gastspiele.

Mehr Experiment geht nicht

So ist das Festival zugleich ein Forum und Marktplatz für neue Kooperationen. Pekko Koskinen und Markus Öhrn haben sich hier kennengelernt. In der jüngsten Auflage des Baltic Circle zeigen sie "Porn of Pure Reason". Regelmäßiger Gast beim Baltic Circle ist auch die Gruppe Oblivia, inzwischen ein finnischer Exportschlager, die in "Super B" ihre von der Zeit gezeichneten Körper auf der Bühne sprechen lassen. Eine eigens für den Baltic Circle zusammengestellte "Arbeitsgruppe" aus Regisseuren und Performern, darunter Anna-Mari Korvinen, die mit ihren Inszenierungen von antiken und naturalistischen Klassikern Aufsehen erregt hat, erhält an zwei Abenden die Möglichkeit, die Bühne des Mediakeskus Lume in ein Performance-Labor zu verwandeln. Mehr Experiment geht nicht.

Dennoch plant Eva Neklayeva für den Baltic Circle 2014 tiefgreifende Veränderungen: Kulturpolitische Diskussionen sollen Bestandteil des Festivals werden. "Wir leben in einer Blase und die Blase muss ausgeweitet werden", fordert die streitbare künstlerische Leiterin. So sollen die politischen Parteien eingeladen werden, sich zu "outen", was sie zukünftig für das Theater tun möchten, das zunehmend unter Rechtfertigungsdruck geraten ist, wenn es um Steuergeld-Förderungen geht.

Umso größeren Stellenwert haben inzwischen zahlreiche private Stiftungen. So hat die Kone Stiftung 2008 eine Residenz eingerichtet, die inzwischen zu einer Drehscheibe für finnische Theaterleute geworden ist. Die Choreografin Heli Meklin, die mit ihren ungewöhnlichen und sperrigen Arbeiten in den letzten Jahren die Tanzszene in Finnland mit geprägt hat, entwickelt hier in "In your mind" eine couragierte und eigenwillige Ästhetik, die wohl nur an besonderen Orten, jenseits der Erwartungen von Publikum, Produzenten und Kuratoren entstehen kann.

 

 

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