Waldgenies und Volkstheater

von Matti Linnavuori

April 2014. Das finnische Theater ist in besonderer Weise ein Volkstheater. Es war nie ein Theater des Könighofs (weil wir von schwedischen und russischen Königen regiert wurden, die das Theater in ihrer Landessprache importierten), sondern ist aus dem Volk entstanden, war also von Anfang an kein akademisches Theater. Die Verbindung zum Volk lässt sich auch heute noch nachvollziehen, wenn jeden Sommer während der Saisonpause etwa 400 Amateurtheater im Freien Komödien spielen und damit eine halbe Million Zuschauer erreichen.

Die Finnen lieben das Theater. Eine Bevölkerung von 5.4 Millionen besucht jährlich insgesamt vier Millionen Vorstellungen. Genauer gesagt: Wir lieben unser Theater. Und das hat Konsequenzen: So heißt Volksverbunden zu sein eben auch, misstrauisch gegen bühnenästhetische Innovationen und äußere Einflüsse zu sein.

Finnischer Genie-Mythos

Das erste professionelle Theater in finnischer Sprache wurde 1872 von Karl Bergbom und seiner Schwester Emilie gegründet, das Finnische Nationaltheater in Pori – trotz der öffentlichen Zweifel, ob diese Sprache und dieses Volk überhaupt zu höheren kulturellen Leistungen fähig wäre. Satirisch übertrieben, aber zu diesem Zeitpunkt akzeptiert war das, was der schottische Aristokrat-Sozialist R. B. Cunninghame Graham 1897 schrieb: "In Afrika, Australien, Amerika und auf Tausenden der Inseln in der Südsee leben niedrigere Rassen. Sie mögen unterschiedliche Namen und Verhaltensweisen haben, sie sind doch alle samt 'Nigger', 'verdammte Nigger'. Auch die Finnen und die Basken und wie sie alle heißen sind im Grunde nichts wert, verkörpert nur eine Art europäischer Nigger, vom Schicksal zum Aussterben vorherbestimmt." (zitiert nach "Durch das Herz der Finsternis" von Sven Lindqvist, 1992).

Es ist klar, dass Graham längst überholt ist, wenn man über das heutige, ziemlich intellektuelle und experimentelle Theater der schwedischen Minderheit in Finnland oder das Tanz-Theater spricht, wo viele Choreographinnen ihre Ausbildung schon seit den 1980er Jahre im Ausland absolviert haben, besonders in Holland. Aber in der finnischen Kultur lebt immer noch der Mythos, dass man direkt aus dem Wald kommen kann (und  sogar kommen muss), um mit seiner ersten künstlerischen Tat die Zivilisation zu bezaubern und gleich als Genie anerkannt zu werden. Bis in die 1980er Jahre hinein war es üblich, dass man der erste Universitätsstudent seiner Familie war, und es gilt immer noch als ehrenwert, ein Image als Naturkind zu pflegen – so, wie es in der Sowjetunion üblich war, auf eine proletarische Herkunft stolz zu sein.

Gott und der Nationalismus

Damit ist das vergleichsweise junge finnische Theater kraftvoll, aber auch einseitig, weil es sich nur unter innerem Widerstand philosophischen Themen zuwendet – weniger Sprache, mehr Aktion, heißt es oft auf den Proben. Ähnlich körper- und erdverbunden, kreatürlich, aber auch erstaunlich religiös sind die Themen vieler Stücke. 1984 schrieb Jussi Parviainen in "Der Liebhaber des Gottes", wie man sich durch Bodybuilding dem Idealbild von Michelangelos David annähert. Die nur kurz bestehende Aktionsgruppe der Theaterakademiestudenten Das Gottestheater warf Exkremente über das Publikum der Theatertage 1987. Zum Thema unverstandener Künstler schuf Kristian Smeds 2000 "Der Gott ist Schönheit". 2014 schrieb Ari-Pekka Lahti "Áillohaš Der Sohn der Sonne" über einen samischen Künstler. Unglaublich, nicht wahr, diese Anwesenheit Gottes in einem sehr säkularen Land! Das ehemalige Gottestheater-Mitglied Esa Kirkkopelto arbeitet jetzt als Professor an der Theaterakademie in Helsinki und Jari Halonen macht Filme, die neuesten heißen "Das Leben des Aleksis Kivi" (2002) über den Vater der modernen finnischen Literatur und "Kalevala“ (2013) über das finnische Nationalepos.

Überraschend ist auch der Nationalismus: Während der Jahre der "Finnlandisierung", als sich das Land um strikte Neutralität zwischen den politischen Blöcken bemühte und der Sowjetunion gegenüber oft durch vorauseilenden Gehorsam auffiel, durfte es keinen offen ausgelebten Nationalstolz geben. Er entwickelte sich erst in den 1990er Jahren, zuerst als Nachahmung der britischen Fußballhooligans, mittlerweile aber auch mit deutlich finnischer Prägung. So ist es in der Politik gerade in Mode, "einwanderungskritisch“ zu sein; mit diesem Wort bleibt man politisch korrekt, ist also nicht "ausländerfeindlich“. Die ziemlich neue Partei The Finns Party ist mit ihrer populistisch-misstrauischen Anti-EU-Rhetorik schnell zur größten Oppositionspartei gewachsen. In dieser Situation sucht das Theater als Gegengewicht die besten Seiten der nationalen Wurzeln: Was bedeutet es, finnisch zu sein? Allerdings nicht vom Standpunkt der Bürgerpflicht aus – die Theatermacher versuchen, unseren mythischen Ursprung immer neu zu definieren. In "Europaeus“ von Juha Hurme (Nationaltheater, 2014) scherzt man – endlich! – darüber, wie zielbewusst die mündlichen Überlieferungen der Volksdichtung poliert wurde, um daraus im 19. Jahrhundert das Nationalepos "Kalevala“ zu schaffen.

Ein Theater für jeden – per Gesetz

Heute, da der Stempel der Genialität nicht mehr an Personen (also Männer) verliehen wird, sondern sparsamer, nur noch an einzelne Werke (also auch die von Frauen), kann er auch plötzlich und unerwartet entzogen werden. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, als Großschriftsteller wie Aleksis Kivi ihre Werke schufen, war es noch möglich, sich allmählich künstlerisch zu entwickeln. Heute muss man sich mit jedem Werk neu gegenüber der Konkurrenz beweisen, gibt es mehr Autoren, die weniger gespielt werden bzw. nach einigen Stücken wieder von der Bildfläche verschwinden.

Nach den ersten finnischen Theatergründungen bauten die Finnen nicht nur an ihrem Image als Waldgenie, sondern auch Theatergebäude, besonders in den 1960er und 1970er Jahren. Im finnischen Wohlfahrtsstaat sollte das Theater jedem erreichbar sein, auch in den kleineren Städten mit unter 40.000 Einwohnern.

Heute gibt es in Finnland 56 Theater, die gesetzlich verankerte 36 Prozent ihrer Finanzierung vom Staat bekommen, weitere 36 Prozent von ihrer Heimatgemeinde; 28 Prozent müssen sie selbst aufbringen, meist durch den Verkauf von Eintrittskarten. Dieser soziale Wohlstand wurde 1993 in ein Gesetz gegossen. Auch in Zeiten ökonomischer Turbulenzen dürfen sich die 56 Häuser der Kontinuität dieses Gesetzes ziemlich sicher sein.

Arme freie Szene

Allerdings haben sich nach 1993 etwa 70 freie Gruppen gegründet, oft, um die Ideen eines einzelnen kreativen Schöpfers zu verwirklichen. Diese Gruppen müssen die Hälfte ihrer Einnahmen selbst erwirtschaften. Deshalb sind sie von der Unterstützung und den Stipendien verschiedener Stiftungen abhängig. Oft überleben die Schauspieler die (Proben-)Zeiten ohne Gage nur mit Arbeitslosengeld. Die künstlerische Freiheit ist im Prinzip grenzenlos, aber der Mangel an Geld bewirkt, dass die Gruppen ihre Ideen nicht lange genug und nicht weit genug ausarbeiten. Scheitern, also wirklich und ohne Ironie scheitern, darf man eigentlich nicht, weil es das Ende der Existenz bedeuten könnte.

Das wichtigste freie Theater ist das Ryhmäteatteri, das Kollektivtheater. Viele Professoren der Schauspielkunst und der Regie an der Theaterakademie kommen von dort, auch manche Schauspieler Aki Kaurismäkis’. Auch der Leiter des Nationaltheaters Mika Myllyaho hat früher als Regisseur im Kollektivtheater gearbeitet. Sein Kollege Esa Leskinen hat lange über das Kapitalismus geschrieben, aber seit seine Gogol-Inszenierung "Der Mantel" (2009) ein Erfolg wurde, hat er mehr oder weniger dasselbe wiederholt – das heißt: viele Perücken und wenige Schauspielern.

Viele Uraufführungen, wenig nachgespielte Stücke

Trotzdem sind wir mit unserem Theater zufrieden. Von den 369 Stücken, die 2012 auf Finnlands Bühnen zu sehen waren, stammten nur fünfzehn Prozent von ausländischen Autoren. Mit drei Prozent folgten Stücke deutscher Autoren erst auf dem siebten Platz – die letzten, die überhaupt als eine einzelne Nationalität aufgelistet waren, gefolgt nur von der Kategorie "alle anderen".

Mehr als einhundert Stücke waren Uraufführungen von finnischen Dramatikern – oft blieben sie die einzige Inszenierung, nur die wenigsten werden nachgespielt. Um zu überleben, geben die Autoren Unterricht für den dramatischen Nachwuchs. Außerdem fördert der Staat Uraufführungen mit jährlich etwa 240.000 Euro. Die Summe wird zwischen 78 Autoren geteilt, womit ca. 3700 Euro an jeden Autor fallen. Die populärsten Aufführungen waren ein Musical über die Karriere der Schlagersängerin Katri Helena (im Stadttheater Helsinki), die musikalisch-soziale Geschichte der Homosexuellen in Finnland ("HOMO!“ von Pirkko Saisio am Nationaltheater) und das Musical "Cabaret" (das gleich an zwei Bühnen lief).

Theater als Wirtschaftsfaktor und Kulturexport

Wir sind begeistert von unserem Theater und gleichzeitig müssen wir die Begeisterung noch übertreiben, indem alle betonen, wie sehr Theater ein Wirtschaftsfaktor und wie gefragt es im Ausland ist, um dem kulturellen Verständnis unserer Politiker zu schmeicheln. Heutzutage glauben sie nämlich, dass auch die Kultur nicht mehr als ein Wirtschaftszweig ist. Das Kulturleben verteidigt und berechtigt seinen Teil des Budgets mit Kalkulationen, nach welchen die Kultur uns nicht nur geistigen Wohlstand bringt, sondern auch konkretes Einkommen, und zwar aus dem Ausland. Es feiert den Begriff "Kulturexport".

Zwar haben der amtierende und der ehemalige Direktor der Helsinki-Festspiele Erik Söderblom und Risto Nieminen (1997-2009) in Interviews gesagt, dass Finnland eher Kulturimport als -export braucht, aber solche Stimmen werden ignoriert. Unsere freiwillige Isolierung durch unsere Fixierung auf nationale Themen und der Umstand, dass es Stücke aus anderen Ländern selten auf unsere Bühnen schaffen, erleichtern den Glauben an den Kulturexport. 2012 wurden 86 finnische Texte im Ausland gezeigt. Finnische Schauspielhäuser gaben 416 Gastspiel-Aufführungen in zwanzig verschiedenen Ländern. Das ist imponierend, wenn man bedenkt, dass es für die Repertoirehäuser wegen ihrer Produktionsbedingungen beinahe unmöglich ist zu reisen und sich die freien Gruppen nach etwa zwanzig Aufführungen auflösen und jeder zu seinem nächsten Auftrag oder in die Arbeitslosigkeit verschwindet.

Einflüsse, Schwerpunkte

Der ukrainische Regisseur Andriy Zholdak hat dreimal in Finnland gearbeitet: am Stadttheater Turku inszenierte er "Anna Karenina" (2010) und "Der Kirschgarten" (2012), am kleinen schwedischen Klockrike Theater in Helsinki "Onkel Wanja" (2011). Nie zuvor haben finnische Schauspieler in einer derart künstlerischen, in jedem Augenblick in der genuinen Sprache des Theaters erdachten Schöpfung mitgewirkt. Unser Theater hingegen ist wie eine Spezies, wo sporadisch auftauchende intensive Momente das Beste sind und sich fast alles als ein ironischer missglückender Versuch interpretiert lässt: Das Scheitern ist Teil der Ästhetik, um auf keinem Fall als lächerlich aufgedeckt zu werden.

Die Ausnahme heißt Dostojewski. Seine Romane zu dramatisieren und auf der Bühne zu realisieren ist das geistig Tiefschürfendste, das sich ein finnischer Regisseur vorstellen kann. Jede Generation adaptiert ihren Dostojewski aufs Neue: Kristian Smeds "Die zwölf Karamasows“ (2011, Estland) und "Sad songs from the heart of Europe" (2006, Litauen), Esa Leskinen "Der Idiot" (1997, am Kollektivheater), "Schuld und Sühne" (2001) und "Die Dämonen" (2003, beide am Nationaltheater), Pekka Milonoff und Tuomo Aitta "Schuld und Sühne" (der eine 1997 am KOM Theater, der andere 2011 am Kollektivtheater). Selten findet man Shakespeare-Inszenierungen in Finnland, desto öfter aber Dostojewski und Tschechow.

In der finnischen Theaterpolitik vor den 1980er Jahren dominierte ein Moskau-loyaler Kommunismus. Damals herrschte eine pflichtbewusste Faszination für das sowjetische Theater, die sich auch nach 1991 fortsetzt, diesmal auf der Basis der Seelenverwandtschaft. Das Theater der finnischen Kommunisten war gar nicht so sozialistisch-realistisch wie man denken könnte. Trotzdem hat es einen Widerwillen gegen politisches Engagement auf der Bühne verursacht, das erst in den Werken von Reko Lundán im KOM-Theater (Helsinki) und am Nationaltheater der 2000er Jahre wieder hervorkam.

Dramatikerinnen

Zunehmend finden vielversprechende finnische Autorinnen auf die Bühnen. Wie ihre männlichen Kollegen schreiben sie oft über die Kindheit, aber aus einer dezidiert weiblichen Perspektive. In "Das Familienmitglied" (2011) von Milja Sarkola gibt es eine Erzählerin, die ihre Vergangenheit kommentiert. In den schwierigsten Vater-Tochter Momenten übernehmen zwei weitere Schauspielerinnen die Rolle der Tochter, um ein Gegengewicht zum Vater herzustellen und das letzte Wort nicht wieder einmal ihm zu überlassen.

In "Ein hübsches Mädchen, aber ein bisschen weich" von Kati Kaartinen (2014, Kollektivtheater, der Titel ist ein Schlager-Zitat) geht es um eine Frau mittleren Alters. Ihre Tochter und ihre Großmutter haben seit Jahren nicht richtig miteinander diskutiert. In der Produktion von Johanna Freundlich wirkt der einzige Mann als Moderator. Er dechiffriert die Gesten der Frauen für die Zuschauer. Was einerseits ein theatrales Mittel ist, illustriert andererseits, wie falsch man Ereignisse aus einem männlichen Standpunkt interpretieren kann.

In "Broken Heart Story" (Q Theater, 2011) von Saara Turunen versucht eine Frau über die größten möglichen Themen zu schreiben: Kapitalismus und Tod. Um diese "männlichen" Themen angehen zu können, trägt sie einen falschen Schnurrbart, aber auch das hilft ihr nicht, weil sie ihre weibliche Seele im Schrank eingeschlossen hat.

Der allmähliche Erfolg finnischer Stücke

"Die Grotten" (2014) von Laura Ruohonen, Professorin der Dramaturgie an der Theaterakademie 2008-13, stellt den Atommüll der Höhlenmalerei gegenüber. Bei Ruohonen kann man immer an die intellektuelle Fähigkeit der Charaktere glauben: Auch wenn sie die Zukunft der Welt, diesmal in Versform, ruinieren, tun sie es nicht aus Dummheit.

Zugespitzt lässt sich behaupten, dass die Charaktere der männlichen finnischen Dramatiker die Umwelt mit Wut betrachten: Die Welt soll sich schämen, weil sie die Größe dieser Männer nicht anerkennt. In den Werken der Dramatikerinnen hingegen analysieren die Charaktere detailliert die Boshaftigkeit der Welt. Ihre Themen und Strukturen haben viel mit der zeitgenössischen Dramatik Westeuropas gemein – ein Grund, weshalb sich das europäische Publikum allmählich an Stücke aus Finnland gewöhnt.

 

Matti Linnavuori lebt in Helsinki. Er ist Redakteur der Rezensionen auf www.criticalstages.org, die Zeitschrift des Internationalen Verbands der Theaterkritiker www.aict-iatc.org

Die zitierte Statistik (hier von 2012) wird jährlich von Tinfo The Finnish Theatre Information Centre erstellt und auf www.tinfo.fi publiziert.

 

 

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