Alltag mit Pointen

von André Mumot

Heidelberg, 26. April 2014. Es liegt, seien wir ehrlich, schon etwas Neid in der Luft. Das ist ja auch verständlich, denn nicht nur hat Finnland – wie wir – jede Menge Theater, Autoren und Uraufführungen aufzubieten (knapp über 200 im Jahr sollen es sein). Nein, diese einheimischen Bühnenwerke finden dann auch noch, anders als hierzulande, enthusiastischen Zuspruch beim großen Publikum.

Das Theater gehört, das lässt sich am zweiten Tag des Stückemarkts von Dramen-Scout Jukka-Pekka Pajunen erfahren, zum Alltag der Finnen, weil es von eben diesem Alltag erzählt und weil es dabei zumeist auch die Sprache dieses Alltags benutzt. Ungekünstelt ist es also in der Regel, volkstümlich und etwas wortkarg.

Kampf im Küstendorf

So wie auch die Alten in dem kleinen Küstendorf sprechen, das Pipsa Lonka in dem Stück beschreibt, mit dem der dreiteilige Lesungsreigen des Internationalen Autorenwettbewerbs zur Mittagszeit eröffnet wird. Es säuft ab, dieses finnische Dorf. Was an der Klimakatastrophe liegt und am steigenden Meeresspiegel: "These Little Town Blues Are Melting Away" heißt die zarte kleine Liebeserklärung an Land und Leute, in der die übrig gebliebenen Rentner aus ihren romantisch verwinkelten Häuschen in ein so genanntes "Glücks-Zentrum" evakuiert werden, in die Endstation Altenheim.  lesung finnland2 250 mw uLesung "These Little Town Blues"
© Matthias Weigel

Nur eine rüstige alte Dame entzieht sich der durchorganisierten Seniorenabwicklung, schwimmt gegen den Strom und lässt sich ins Meer hinaustreiben, an Öltankern und Eisbergen vorbei bis nach New York. Nicht die lakonisch kurz angebundenen Dialoge stehen dabei im Mittelpunkt, sondern eine Erzählerfigur, die ausführlich berichtet, liebe- und verständnisvoll alle Handlungen kommentiert und sich so durch einen Text bewegt, der letztlich weniger Drama als ein verspielter, wohlfühliger kleiner Roman ist, der, wenn er so herzig vorgetragen wird wie hier von den Mitgliedern des Heidelberger Ensembles, einen durchweg niedlichen und behaglichen Eindruck macht.

Existenzielle Fragen

Ganz anders dann "Jeder von uns", ein Stück, das ganz ohne erzählte Handlung auskommt. "Eine Person" fällt hier aus der Zeit und ins Jenseits, was Autorin Emilia Pöyhönen dazu animiert, sachliche Un- und Todesfallbeschreibungen neben albern surreale Episoden und dick aufgetragene metaphysische Grundsatzfragen zu stellen. "Der wahre Charakter der Wahrheit muss unbedingt vergessen werden", wird da ganz ernst verkündet und manches andere, das nicht leicht zu schlucken ist, zugleich aber etwas deutlich macht: Weder übersatte Abgeklärtheit noch Ironie-Zwang stehen in der finnischen Dramatik dem Drang entgegen, existentielle und gesellschaftliche Probleme in expliziter Eigentlichkeit zu verhandeln.

Weil ein anderer Autor, Juha Jokela, genau dies so virtuos beherrscht, hat ihn das finnische Publikum längst zum Star-Autor für die Bühne, aber auch fürs Fernsehen gemacht. Im Gastland nichts Ungewöhnliches, aber man stelle sich nur mal vor, was es wäre, wenn uns beispielsweise Nis-Momme Stockmann eine Fernsehserie schreiben würde.

Szenen einer Abrechnung

Jokelas "Patriarch" jedenfalls ist ein betont lebensnahes Konversationsstück, von dem in Heidelberg wegen des großen Umfangs nur ein Ausschnitt vorgelesen werden kann, nur drei Szenen von neun. Doch schon nach den ersten Sätzen spürt man, dass hier etwas ins Rollen kommt, dass die Darsteller plötzlich ganz wach sind, dass sie sich gierig auf den selbstverständlichen Dialogfluss und das mit dankbaren Pointen durchsetzte Alltagsgeplänkel stürzen, als wären sie zu lange auf Theatersprachen-Diät gewesen.

Ein Ehepaar kehrt hier nach Jahren in Frankreich nach Finnland zurück, weil der selbstgefällig auf die Rente zugehende Ehemann noch einmal ins Geschäft einsteigen will, in die Politik, vielleicht auch in die erneuerbaren Energien. Beim Willkommensfest dann prallen die Generationen und die Geschlechter auf einander, es kommt zu Abrechnungsszenen, in denen wieder alles ausgesprochen und angemahnt wird: Die Männerklüngelei der machtgewohnten Sozialdemokarten und das schmunzelnde, selbstverleugnende Schweigen ihrer Frauen, die Selbstgefälligkeit der Nachkriegsgeneration und ihre Unfähigkeit, den ehrgeizig aufgebauten Wohlfahrtsstaat am Leben zu erhalten.

Willkommener frischer Wind

Subtil und raffiniert ist er nun nicht gerade, dieser gesellschaftskritische Naturalismus, wirkt jedoch, weil er sich klug und witzig und nicht altbacken anhört, zur Abwechslung einmal wie ein frischer Wind der Klarheit. Die Argumente fliegen überdeutlich hin und her, treffen dann aber doch meistens ins Schwarze, die Schauspieler funkeln begeistert, und das Publikum gibt Szenenapplaus. Die Basis nämlich ist durchaus anwesend, und es passiert etwas, das sehr, sehr selten vorkommt, wenn Theatertexte vorgelesen werden. Jemand meldet sich und fordert mit eifrigem Nachdruck, dass dieses Stück, mit diesen Schauspielern, ins Heidelberger Repertoire aufgenommen werde. Der Beifall ist groß, es wird genickt. Und da ist er dann auch wieder kurz spürbar, dieser Hauch von Finnland-Neid. Verständlich ist es ja.

These Little Town Blues Are Melting Away - Lieder vom Ufer des Grauen Meeres
("Lauluja harmaan meren laidalta")
von Pipsa Lonka, Deutsch von Katja von der Ropp
Einrichtung: Stephanie Michels, Jürgen Popig. Gelesen von: Nicole Averkamp, Massoud Baygan, Clemens Dönicke, Felicity Grist, Elena Nyffeler, Andreas Seifert, Nanette Waidmann.

Jeder von uns
("kuka tahansa meistä")
von Emilia Pöyhönen, Deutsch von Stefan Moster
Einrichtung: Juri Padel, Lene Gröschs. Gelesen von: Josepha Grünberg, Florian Mania, Fabian Oehl, Christina Rubruck.

Der Patriarch
("Patriarkka")
von Juha Jokela, Deutsch von Stefan Moster
Einrichtung Sonja Winkel, Juri Padel. Gelesen von: Nicole Averkamp, Clemens Dönicke, Hans Fleischmann, Josepha Grünberg, Volker Muthmann, Elena Nyffeler, Stefan Reck, Christina Rubruck, Nanette Waidmann, Olaf Weißenberg.

 

Zu den Essays über die finnische Theaterlandschaft von Matti Linnavuori und Friederike Felbeck


You have no rights to post comments