Was rappelt in der Black Box?

von Sophie Diesselhorst

April 2014. In allen drei zum Jugendstücke-Wettbewerb eingeladenen Inszenierungen kommt (mindestens) eine Black Box vor, eine trägt sie sogar im Titel: die Düsseldorfer Arbeit "Black Box Schule" von Oliver Frljic.

Kann das Zufall sein? Aber erst einmal: Was ist eigentlich eine Black Box? Wikipedia sagt: "Allgemein ist eine Black Box ein Objekt, dessen innerer Aufbau und innere Funktionsweise unbekannt sind oder als nicht von Bedeutung erachtet werden. Von Interesse ist vielmehr nur das Verhalten der Black Box, die über definierte Schnittstellen eine bestimmte Funktionalität sicherstellt. Die Motivation bei der Verwendung des Begriffs tendiert zu 'das Innere interessiert (jetzt) nicht', auch wenn er manchmal im Sinn von 'wir wissen es (sowieso) nicht' verwendet wird. Diese Herangehensweise wird oft verwendet, um die Komplexität des Beobachtungsgegenstandes zu reduzieren."

Internet- und Theater-Nerds

Auf Wikipedia guckt man, um schnelle Gewissheit zu erlangen. Wikipedia ist, anders ausgedrückt, eine der wichtigsten Schnittstellen zwischen dem globalen Wissensarchiv Internet und dem spezifischen Wissensmangel einzelner Menschen. Über diese Schnittstelle wird eine bestimmte Funktionalität sichergestellt: nämlich die Behebung des spezifischen Wissensmangels. Die, die dort Artikel schreiben und zur Erforschung des inneren Aufbaus und der inneren Funktionsweise der Black Box Internet aktiv werden, werden von den meisten entweder verachtet oder bewundert und immer noch Nerds genannt.

Auch Menschen, die ins Theater gehen, laufen so langsam Gefahr, Nerds genannt zu werden. Es ist ja auch speziell, sich in einer Zeit, in der ein neues Medium unsere Kommunikation revolutioniert, für ein uraltes Medium zu interessieren. Das meistens in Gebäuden aus vorigen Epochen haust und seltsame Regeln aufstellt: Das Handy soll ausgestellt werden. Kommentieren tut man das Geschehen nicht, indem man wann und wie oft man will auf ein Bild von einem Daumen klickt, sondern indem man zu einem bestimmten Zeitpunkt mit seinen echten Händen klatscht.

Der sperrige alte Baum Theater

Und jetzt mal von der anderen Seite gesehen, sozusagen aus Nerd-Perspektive: Dem Theater stirbt erwiesenermaßen das Publikum weg. Die Hoffnung ruht, wie immer, auf der nächsten Generation. Das Kinder- und Jugendtheater steht also mehr noch als das "Erwachsenentheater" unter enormem Druck, sich mit seinem potentiellen Publikum auseinanderzusetzen und neue Kommunikationsstrategien zu entwerfen, damit die uralten Gebäude nicht in Bälde abgerissen oder durch den Weltkulturerbe-Stempel vor dem Abriss geschützt werden müssen. Damit mindestens ein paar Nerds nachwachsen.

Die drei Produktionen, die in den Jugendstücke-Wettbewerb des Heidelberger Stückemarkts eingeladen sind, haben gemeinsam, dass sie diesen Druck spielerisch nehmen als nassforsche Herausforderung, den sperrigen alten Baum Theater zu gießen, auf dass er noch neue Äste produziere. Die Bewegung ist vor allem eine ästhetische (nur eins der drei Stücke, "Homevideo" aus Baden-Baden, beschäftigt sich explizit mit den Alltags-Herausforderungen, die die Neuen Medien an Jugendliche stellen). Dabei ist ein (nicht neues) Bild, auf das man sich offenbar einigen kann, die Black Box. Sie ist in der Tat ein eingängiges Symbol für die Vielfalt an neuen Kommunikationstechniken, die das world wide web eröffnet. Die wir derart in unsere Berufs- und Privatroutine integriert haben, dass wir sie auch nach den NSA-Enthüllungen viel und unbeschwert nutzen, ohne uns alltagsüber schwere Gedanken zu machen. Leave that to the Nerds.

Die Black Box als Stro Room: "Animal Farm"

Natürlich bleiben an dem Symbol Black Box auch immer mal ein paar kulturpessimistische Vorurteile hängen. Wie zum Beispiel in Showcase Beat Le Mots "Animal Farm", eine Produktion, die am Berliner Theater an der Parkaue Premiere hatte.

AnimalFarm1 250 AtiaTrofimoff" Animal Farm" © AtiaTrofimoff

Dort heißt es im "Black Box Song": "(...) Every smartphone is a blackbox. Every tablet is a blackbox. Every smartphone is a coffin. Every tablet is a coffin." Das Smartphone als Sarg? Smartphone enthält Tod, Theater enthält Leben? Geht's noch schlichter? Dabei ist die Rolle der Black Box in der Inszenierung von Orwells Gesellschafts-Dystopie interessant uneindeutig. Die Black Box ist ein Stro Room, der dem Publikum während der Vorstellung zugänglich ist. Die Blitz-Bilder aus seinem Inneren werden auf eine kleine Leinwand in der Mitte der Bühne übertragen. Viel Erkenntnis überträgt sich nicht ins Zuschauerhirn, aber immerhin gucken wir hin. Und vielleicht müssen unsere Augen sich auch einfach erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen, so wie wir unsere Denk-Autobahnen noch ausbauen müssen, um die Datenmengen zu ermessen, die das Internet anhäuft. Alleine die, die, wie wir peu à peu erfahren, die NSA ansammelt. Ganz nach "Mister Lehrerschweins" Devise, der seine Schüler in der postrevolutionären Terror-Schule auf der "Animal Farm" unter anderem diesen Satz auswendig pauken lässt: "The one who controls communication is the one who controls history."

Overkill der Kommunikationsräume: "Homevideo"

Dieser Satz funktioniert auch, wenn man "history" nicht als die große, sondern als eine kleine Geschichte übersetzt. Jakob, Protagonist in Laura Huonkers Inszenierung "Homevideo" (nach einem mit Deutschem Fernseh- und Grimme-Preis geadelten Fernsehfilm) vom Theater Baden-Baden, wird es zum Verhängnis, dass er ein peinliches Liebesgeständnis auf seine Kamera gebannt hat. Beziehungsweise, dass seine ahnungslose Mutter die Kamera, ohne ihn zu fragen, an einen Freund verliehen hat. Mitsamt Datenchip, mitsamt peinlichem Liebesgeständnis. "So was schmeißt man doch nicht weg. Das ist Herrschaftswissen!", schaltet ein Freund dieses Freundes sofort. Jakob wird erpresst, zahlt nicht, der Freundesfreund verschickt das Video an alle Handys, die er kennt. Wenn er es "nur" ins Internet gestellt hätte, könnte man es daraus ja wieder offline nehmen.

Homevideo1 250 FrankWoelfl"Home Video" © Frank Wölfl

"Homevideo" beschäftigt sich also nicht nur mit der Vervielfältigung unseres Kommunikationsraums durch das Internet, sondern auch mit den Möglichkeiten der Technik, die im Wechselspiel mit unserem experimentellen "User-Verhalten" entstehen. Dabei wird der virtuelle Raum trotz der fatalen Konsequenzen, die das "Cyber-Mobbing" am Ende hat – Jakob begeht Selbstmord – nicht verteufelt: Im "Chatroom" wird Jakob nicht nur angefeindet und erpresst, sondern es kommt durchaus auch zu Begegnung und Verständigung. Dass ihn die Ermutigung, die er dort von seiner Freundin Hannah erfährt, nicht davon abhält, zur Waffe zu greifen, bedeutet nicht, dass der Chatroom ein irrealer Raum ist. Was "Homevideo" aber schon problematisiert, ist die Selbst-Entfremdung, die ein Overkill der Kommunikationsräume – alle behaupten sie Realität – mit sich bringen kann. Im Bühnenraum, der ja eh nur so tun kann, als wäre er mehrere Räume, wird hier auf das So-tun-als-ob verzichtet; stattdessen stapeln sich nur schwarze Boxen. Ähnlich wie bei "Animal Farm" lässt sich die Black Box als Markierung einer (noch?) nicht darstellbaren Wahrnehmungs-Überforderungs-Situation lesen.

Schulstunden im Zeitraffer: "Black Box Schule"

Der dritte Kandidat macht die Black Box zum Prinzip: "Black Box Schule", eine Arbeit von Oliver Frljic am Düsseldorfer Schauspielhaus, setzt sich mit dem alten Medium Frontalunterricht auseinander und porträtiert die Schule als Institution, deren "innerer Aufbau und innere Funktionsweise unbekannt sind oder als nicht von Bedeutung erachtet werden" – siehe oben. Hier wird die Wahrnehmungs-Überforderung nicht bloß dargestellt oder signalisiert, sondern die Wahrnehmung des Zuschauers wird offensiv überfordert: Die Bühne wird in vier Klassenräume geteilt, in denen durchgedrehte Lehrer Schulstunden im Zeitraffer geben. Auf dem Lehrplan stehen Mathe (wie man richtig viel Geld verdient, ohne zu arbeiten: viele Kinder kriegen, viel Kindergeld kriegen), Sport (Cocktailtomaten auf Merkel-Foto werfen) und Ethik (warum es wichtig ist, billige T-Shirts bei H&M zu kaufen: damit die Kinder in Bangladesch Arbeit haben). Außerdem eine Menge Publikumsbeschimpfung (von harmlosem "Halt die Klappe!" bis zu "Dich hat aber auch noch keine rangelassen, oder?").

blackbox1 250 SebastianHoppe"Black Box Schule" © Sebastian Hoppe

Nachdem das Prinzip Frontalunterricht mit Lärm und Action ad absurdum geführt worden ist, katapultiert sich am Ende auch noch das Theater selbst auf den Prüfstand, es wird verkündet: "Theater kann nicht die Welt ändern. Theater kann keine Kriege beenden oder verhindern. Theater kann Armut nicht ausrotten. Theater kann die Welt nicht zu einem besseren Ort machen. Nie hat eine Revolution im Theater begonnen. Theater kann keine Traumschule errichten. Theater kann nicht mal eine bessere Schule erfinden. Was das Theater kann ist: Behaupten, dass es all das könnte. Wir finden es aber besser euch zu sagen, dass wir das alles nicht können." Und mit dieser Bankrotterklärung (des hyper-frontalen klassischen Publikumsbeschimpfungs-Theaters) stehen wir wieder mitten im postrevolutionären Kommunikationschaos. Na toll? Selbstdemontage ist der erste Weg zur Besserung? Wenn man bei der Idee der Black Box bleibt, schon!

Und dann? Mal gucken, was drin ist.

Kommentare   

#2 Perspektive...Positron 2014-04-18 08:13
(...)
Es wird Zeit, dass wir der Illusion der Fähigkeit des Theaters wieder ordentlich auf den Leim gehen. Wollen und können.
Und, ach ja, die belgische Revolution entstand im Theater!
#1 PerspektivePositron 2014-04-18 07:59
Wenn die Selbstdemontage und die Selbstbankrotterklärung der reichlich selbstreferentielle Theatermainstream sind, dann wird man sich schon fragen müssen, warum man sich als Nicht-Theaterbetriebvollzeitinsasse anschauen sollte.
Womit auch gleichzeitig der Ausweg definiert wäre, und es ist ja überraschend und verführerisch zugleich, dass dieser heutzutage schon beinahe subversiv scheint, und ganz ordentlich bäh zugleich:
Theater dass sich nicht über Formen definiert, das Theater zu vermeiden, sondern das sich über ein konkretes und ehrlich gelebtes inhaltliches Anliegen definiert, das, gerade weil man sich mit dem üblicherweise erscheinenden Publikum nicht von vornherein auf dieses würde einigen können, das Theater berechtigt, die Illusion vorzugeben, dass Theater auch tatsächlich Theater kann. Und muss. Ob à la Shakespeare-Original, oder à la Schlingensief, ist ja völlig unerheblich.
Es wird Zeit, dass wir der Illusion der Fähigkeit des Theaters wieder ordentlich auf den Leim gehen. Wollen und können.
Und, ach ja, die belgische Revolution entstand im Theater! Und nicht in der Black Box!

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