Die Scheiße als Chance

von André Mumot

April 2014. Eigentlich ist es ja ein Theateralptraum: Das aufflammende Licht, mit dem die Online-Welt übers Telefondisplay in die dunkle Reihe fällt. Die Brummtöne, das Tippen, flinke Finger, gesenkte Blicke, während sich oben Lady Macbeth die Hände wäscht oder Martin Wuttke seinen Pollesch aufsagt. Ja, noch wird gestöhnt und von links und rechts erbittert gezischt und gegen die demonstrative Unkonzentriertheit gewettert. Aber vielleicht ist der Kampf auch schon längst verloren, vielleicht muss man da ganz anders rangehen. Ulf Schmidt jedenfalls stellt seinem Stück eine direkte Anweisung voran: "Den Zuschauern ist die Benutzung von Kommunikationsgeräten (insb. Handy) zu gestatten. Zur aktiven Echtzeit-Außenkommunikation etwa durch Fotoversand/-Sharing, Twittern, Facebook sind sie aufzufordern."

Szenentabellen auf riesigen Din-A-1-Bögen

Neue Zeiten und neue Techniken, neue Komplexitäten der Informationswahrnehmung fordern neues Theater, ein agiles, offenes Theater, findet Ulf Schmidt, der Internetaktivist, der fortschrittsfröhliche Vordenker und eifrige Postdramatiker, der zu diesem Thema ausführlich provozierende Debattenbeiträge beigesteuert hat. Spätestens mit "Der Marienthaler Dachs", einem Stück, das den Untertitel "Zuletzt stirbt endlich die Hoffnung" trägt, demonstriert er nun auf überaus konsequente Weise, wie die neuen Wege ganz konkret aussehen könnten.

Das beginnt schon mit der Textfassung, einer typographischen Herausforderung der sperrigeren Art: Vier bis fünf Parallelhandlungen füllen eine gewaltige Tabelle, die sich – wenn überhaupt – nur in riesigen Din-A-1-Bögen ausdrucken lässt und in der die einzelnen Redeanteile so synchronisiert sind, das sie sich trennen, sich wiederbegegnen und in ein immer komplizierteres Labyrinth der Bezüglichkeiten hineinführen. Nein, hier hat sich kein Dramatiker des alten Schlags die Schillerlocken hinters Genie-Ohr geklemmt und sein Herzblut aufs Pergament fließen lassen: Ulf Schmidt muss man sich als Tüftler vorstellen, der überlebensgroße Diagramme in sein Arbeitszimmer hängt, der sich sprachspielerisch treiben lässt und vermutlich ganz nebenbei noch eine Reihe von Rubik-Würfeln knackt. Im Ganzen hat er vier Jahre lang konstruiert und mit mathematischer Präzision an diesem Entwurf gewerkelt. Als Vertreter des "Writing Rooms", der das kompetente Team an Stelle des einzelnen Autors setzt, gibt er selbst zu: Es hätte schneller gehen können, hätte man sich die Arbeit geteilt.

Sehnsucht nach Arbeit

Für eine mögliche Aufführung bedeutet der ambitionierte Aufbau: Fünf Handlungsorte – die "Wirtschaft", der "Marktplatz", das "Haus Pleite", das "Haus Bank-Rott", sowie eine Blackbox –, zwischen denen der Zuschauer nach Belieben wandelt, in denen er vielleicht zuhört, vielleicht twittert, vielleicht fotografiert. Angst, dass jemand etwas Wichtiges verpassen könnte dabei, hat der Autor nach eigenen Aussagen nicht: Schließlich kann der Besucher sich anschließend mit den anderen Wandlern austauschen, ganz so, wie man es im Internet auch tun würde. Und für die alles entscheidenden Verwicklungen der Handlung führt Ulf Schmidt sein Publikum ohnehin wieder zusammen.

Denn Handlung findet sehr wohl statt. Den Ausgangspunkt hierfür bildet eine soziologische Studie aus den 20er Jahren, in der beschrieben wird, wie nach der Pleite einer Textilfabrik eine ganze Siedlung (jenes titelgebende Marienthal) vollständig in Arbeitslosigkeit und einer lähmenden Lethargie versank. Diesen sinnbildlichen Ort lässt Ulf Schmidt nun in unheimlicher-grotesker Form wiederauferstehen, als lästerliche Allegorie auf unsere kapitalistische Institutionshörigkeit. Über allem thront hier nämlich der Turm, in dem der ungreifbare, gottähnliche Dachs residiert, der angebetet und dem auch noch das letzte Hemd geopfert werden muss. Unsichtbar bleibt er, und nur ein geschwätziges Medium berichtet unentwegt von dem aktuellen Gefühlszustand des geheimnisvollen Wesens, seinem derzeitigen Kurs: "Hört hört, ihr Leute, hier ist die Dachsschau. Guten Abend. Nach etwas müdem Start hat der Dachs sich langsam berappelt und erst einmal ausgiebig gefrühstückt. Einige Opfer der Dorfbewohner hat er gekostet, erstaunlich viel davon hat er geruht zu genießen und damit zu akzeptieren."

Die Bewohner des Dorfes sehnen sich nach Arbeit, töten einander die Haustiere, verprügeln den Fremden, der "Andi Arbeit" heißt, lynchen schließlich auch den Bürgermeister "Dieter Oben" und überlegen, ob sie die benachbarten Josefsthaler überfallen und umbringen sollen, um an deren Arbeitsplätze heranzukommen. Als dann auch noch die nahegelegene "Scheißthalsperre" einzustürzen droht, müssen die Mitglieder des Hauses "Bank-Rott", die "Vater Staat", "Mutter Konzern" und "Tochter Gesellschaft" heißen, abwiegeln: "Lasst uns die Scheiße als Chance betrachten. Zwar werden einige hier wohl ersaufen ... aber die anderen können blühende Landschaften züchten, wenn erst die Mauer gefallen sein wird. Die Scheiße, die unser Dorf überschwemmt, sorgt für fruchtbaren Boden."

Surfer gesucht!

Weiter und weiter webt Ulf Schmidt, der ewig Agile, dieses Netz des grell betonten Anspielungsfurors, spielt frei assoziierend neoliberalen Wahlkampf und Dachsturmeinsturz durch, verknotet die komplexen Muster und zieht zusammen, poetisiert und greift auch immer wieder selbstbewusst auf plakativen Klamauk zurück, der sich etwa in den Berechnungen des in der Wirtschaft tätigen Milchmädchens entlädt: "Ich weiß nicht, was an unserem Geschäft verkehrt ist, aber ich weiß, dass Geschlechtsverkehr im Geschäft verkehrt wäre, weil der geschäftliche Geschlechtsverkehr die Verhältnisse geschäftsschädigend verkehrte."

Ein komplex ins Weite schweifendes Sprechen schallt einem entgegen, wenn man sich durch Schmidts maßlose Partitur arbeitet, die man früher wohl als inkommensurabel bezeichnet hätte. Ein nicht nachlassendes Sich-Abarbeiten ist das an den semantischen Klischees unseres Arbeits- und Wirtschaftsfetisches, an einer als sakral empfundenen Börsenwelt, die hier als monströse Theaterfabel zu einem Erlebnisparcours der besonderen Art werden dürfte – falls es denn tatsächlich jemals gelingen sollte, den "Marienthaler Dachs" von den gigantischen Tabellenbögen in die szenische Wirklichkeit zu holen.

Seinen Zuschauer stellt sich Ulf Schmidt, wie er selbst erzählt, jedenfalls gern als einen Surfer vor, einen der gestählt ist von den Wellen des Internets, vom Überangebot der Informationen. Ein Hypertextabenteurer der Gegenwart ist hier gesucht, der schnell weiterzieht, wenn’s zu viel wird, einen, der mit diskutiert, ein Surfer, der das Handy anlässt – der es auch brauchen wird, um in diesem faszinierenden Irrgarten einer möglichen Theater-Zukunft nicht rettungslos verloren zu gehen.

 

 

 Lesung von "Der Marienthaler Dachs" am zweiten Tag des Autorenwettbewerbs, Sonntag 4. Mai, um 16 Uhr im Alten Saal.

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