Wie ein nächtliches Augustgewitter

von Simone Kaempf

April 2014. Am ersten Tag der Sommerferien hat das Wetter Erbarmen. Es ist jedenfalls ein schöner Tag, an dem "Das Tierreich" beginnt. Zwei Mädchen fahren auf einem grauen Herrenfahrrad Richtung See. Nele und Lennart, seit neun Wochen ein Paar, spielen Federball. Babet und Heiner sitzen auf einem Badetuch in der Abenddämmerung. Und gleich am Anfang zischt Paul auf neonblauen Inlineskates um die Ecke, "sein Schulzeugnis hält er wie eine Revolutionsflagge der Sonne entgegen, es flattert im Wind".

Nele Brunner, Vincent Hagen, Heiner Liliencron - mit solchen Namen führt das Autorenduo Nolte Decar seine Klassenzimmer-starke Besetzung ein, 21 Heranwachsende, deren Namen entfernt an Erich-Kästner-Romane erinnern, aber die doch ganz im Hier und Jetzt verortet sind: In eine fiktive Kleinstadt namens Bad Mersdorf, zu der ein Freibad gehört, eine italienische Eisdiele, Schul- und Jugendzentrum, auch eine Autobahnausfahrt und vor allem eine scheinbar sorglose Sommerstimmung, in die man zum Ferienbeginn wie in eine große Freiheit aufbricht.

Wunschdenken im besten Wortsinn

Formal funktioniert "Das Tierreich" als raffinierte Montage aus Regieanweisungen, frei untereinander aufteilbaren Texten und dichten Dialogen, mit deren Hilfe Nolte Decar schnelle Szenenwechsel schaffen und doch suggestiv hochsommerlich die Zeit verlangsamen. Inhaltlich werden wir als Betrachter Zeuge eines Erwachsenwerdens. Kleine, fast nebensächliche Ereignisse stellen die Weichen für den zukünftigen Lauf des Lebens, und meist fügen sich die Dinge ganz anders als gedacht. Wunschdenken im besten Wortsinn taucht auf der Erzählebene immer wieder auf, eine Reibung an der Wirklichkeit, etwa beim Anlauf zum ersten Kuss:

Heiner: Ich bin mir fast sicher, dass sie zurückküssen würde.
- Er denkt sich, wenn ich nur eine gute Kuss-Überleitung hätte. Er denkt sich:
Heiner: Jetzt oder jetzt oder jetzt-
- Und traut sich dann doch nicht.
Babet: Hast du was gesagt?
- Und Babet denkt sich: mach doch, mach doch-
Babet: Mach doch einfach!
- Und traut sich aber nicht, es selbst zu machen.
Heiner: Ich? Ich hab nichts gesagt.

Zum Kuss wird es nicht kommen. Aber nicht nur die Früchte des Verliebtseins, auch eine Band-Probe oder die Abstimmung der Schul-Umbenennungs-AG nehmen ihre eigenen Wendungen. Ein vom Vater ausgeliehener Jaguar wird in einen Unfall verwickelt, bei dem ein Mädchen ein Bein verliert. "Das Tierreich" zielt jedoch weniger auf das individuelle Schicksal solcher Ereignisse, sondern spinnt daraus ein Netz poetischer Zufälle und Gesetzmäßigkeiten. Als Regine etwa ihr Haustier abhanden kommt, entführt, wie sie vermutet, verdächtig sie die Falsche, was zu weiteren Verwicklungen führt. Das flüchtige Chinchilla läuft einer hobby-fotografierenden Schülerin vor die Kamera, die beschließt, später Tierfilme in Südamerika zu drehen. Ob es wirklich dazu kommt, bleibt offen. Nolte Decars jugendliche Figuren treten in resoluter Unkenntnis in den Lauf der Dinge ein, ausgestattet allenfalls mit einer Intuition, was im Leben in die eigene Hand zu nehmen ist, was durch fremdbestimmte schicksalshafte Verkettung beeinflusst wird.

Ein Panzer und seine Folgen

Der große Knall, der sich symbolisch wie ein nächtliches Augustgewitter in der unaufgeregten Ferienstimmung entlädt, ist dann auch ein bewusst irreal gehaltenes Spiel mit dem Zufall: Ein Leopard II Kampfpanzer stürzt vom Himmel auf die Schule. Eine Frachtmaschine hatte Probleme mit der Elektronik, aus der geöffneten Laderampe fiel der Panzer aus zwölf Kilometern Höhe auf das Schulgebäude. Solche Fantastik des Zufalls könnte kitschig sein, doch Nolte Decars Figuren stehen in lakonischer Lebenstüchtigkeit den schicksalhaften Widrigkeiten gegenüber. Der vom Himmel gefallen Panzer erscheint ihnen als halb rätselhafter, halb alltäglicher Zwischenfall, dessen Ordnung sich ihnen nur oberflächlich preisgibt. Und so malen sie in nächtlicher Lagerfeuer-Stimmung auch wilde Phantasien aus um Sabotage, illegale Waffenlieferungen und als Panzer getarnte Ufos.

Das Stück rückt aber auch an die Fragen, wie man im Nahbereich mit einem solchen Ereignis umgeht. So überlegt die Schul-Umbenennungs-AG, nun namenstechnisch zu reagieren. Die Chefredakteurin der Schülerzeitung beschließt, einen Essay über Palästina zu schreiben. Britta und Babet wiederum organisieren eine Party, um Spenden für den Wiederaufbau zu sammeln. Bei dem Fest landen sie dann wieder bei ihren kleinen privaten Nöten: Sven verliert seine geerbte Uhr, die vor seinen Augen von einem eifersüchtigen Mädchen zerschlagen wird. Eine notorische Lügnerin erzählt herum, dass ihre Zwillingschwester tot sei. Klaus wird von Steffen verführt und erkennt, "dass der Grund, warum er noch nie ein Mädchen geküsst hat, vielleicht der ist, dass er gar keine Mädchen küssen möchte".

Netz der Abhängigkeiten

Jakob Nolte (Jahrgang 1988) und Michel Decar (Jahrgang 1987) haben "Das Tierreich" mit einer gehörigen Portion Ironie unterfüttert. Von den vielen Problemstücken, die für das Jugendtheater geschrieben werden, hebt sich ihr Stück auffallend ab. Wobei diese Genrezuordnung sich gar nicht zwangsläufig aufdrängt, denn das Zusammentreffen scheinbar kontingenter Ereignisse gewinnt hier etwas Allgemeingültiges, das sich nicht auf die Schulzeit beschränkt und auch im normalen Schauspiel besteht.

Beide Dramatiker studierten Szenisches Schreiben an der Universität der Künste, schreiben sowohl eigene Texte, haben als Duo mit "Helmut Kohl läuft durch Bonn" ein sehr textflächiges Stück vorlegt, vollgesogen mit literarischen Zitaten samt einer bundesrepublikanischen "Lear"-Paraphrase um drei Brüder, die sich Ost- und Westdeutschland untereinander aufteilen. Man könnte ihre überbordenden Ideen für ein Ergebnis ihrer kollektiven Arbeit halten. Für sie selbst liegen die Vorteile des gemeinsamen Schreibens im gegenseitigen Korrektiv. "Wenn man alleine arbeitet, weiß man viel weniger, ob man gerade etwas Gutes oder Schlechtes schreibt. Wäre natürlich herrlich, wenn man das genau wüsste. Einfacher wird es, wenn jemand Feedback gibt, dem man ästhetisch vertraut", sagt Michel Decar.

Auch allein hätten sie jeweils entschieden, zwischen satten 22 Personen ein Netz der Abhängigkeiten zu ziehen, entspricht es doch ihrer Idee, dass sich die Menschheit in größeren Bahnen bewegen. Welche Konflikte spielen sich schon über lange Zeit unter wenigen Figuren ab? So trifft hier jeder auf jeden, bilden sich unterschiedliche Konstellationen, am Ende auch zwischen Mensch und der titelgebenden Tierwelt. Die Filmemacherin in spe räsoniert im Zwiegespräch mit dem Chinchilla, dass Ozelots, Jaguare und andere Raubkatzen zwar natürliche Feinde sind, doch "die größte Bedrohung ist der Mensch". Die jugendlichen Heranwachsenden mögen sich zwar naiv-unschuldig zu Leibe rücken, aber in der luftigen Sommerstimmung ist ihr Freiheitsgefühl fragil: längst stecken auch sie bereits in existenziellen Zwängen fest.

 

Lesung von „Das Tierreich“ am ersten Tag des Autorenwettbewerbs, Samstag 3. Mai, um 15 Uhr im Alten Saal.



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