Der Kommissar und das Tumbleweed

von Michael Stadler

April 2014.Moment mal: Wo sind wir hier eigentlich? Welches Genre, welches Milieu, welche Gedankenräume macht uns Juliane Stadelmann zu Beginn ihres Stücks auf? Liest man den Titel, hört man sofort die Mundharmonika bedrohlich kreiseln, sieht Charles Bronson vor sich, seine Augen in Großaufnahme. Auf das, was Bronson bei Sergio Leone spielte, setzt Stadelmann eins drauf: "Noch ein Lied vom Tod."

Dann aber die Besetzungsliste: An oberster Stelle kein Sheriff, sondern ein "Kommissar", der den schluffigen Namen Udo trägt. Des Weiteren finden sich im Stückpersonal zwei Jungen namens Tackenförster und Ottenzwerg, was wie Rosenkranz und Güldenstern und irgendwie nach Klamotte klingt. Immerhin: Ein Tumbleweed mischt mit, das hat Westernpotential. Kaum haben wir aber die Kapitelüberschrift "Die Rothaut mit dem schnellen Schuss" hinter uns gelassen, reitet Stadelmann mit uns in das Erdgeschoss eines Plattenbaus. Darin: eine Kneipe. Der Geruch des wilden Ostens liegt in der Luft: angebratene Zwiebeln und süß-sauer eingelegte Gurken. Zwar trinkt der kleine Tom hier jugendgefährdend einen Whiskey, aber Clara neben ihm löst – John Wayne, steh uns bei! – ein Sudoku.

Fahrlässige Kindstötung im Plattenbau

Rätsel an allen Ecken und Enden, statt Lösungen die Auflösung von Genregewissheiten – man spürt die grenzenlose Weite, nicht der Landschaft, sondern des Stückeschreibens. Juliane Stadelmann lässt in die Kneipe Günther's Eck das Tumbleweed hineinwehen, das heißt, einen dieser trockenen Pflanzenballen, die im Western durch die Gegend rollen. Während man noch im Geiste einen Darsteller auf der Bühne Purzelbäume schlagen sieht, lacht Juliane Stadelmann und meint: "Ein Schauspieler würde sich für so eine, im wahrsten Sinne des Wortes, Hauptrolle bestimmt bedanken. Aber für mich ist das Tumbleweed ein musikalisches Element, das begleitet, stört und kommentiert."

Am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, wo sie seit dem Herbst 2011 studiert, sollte ihre Klasse etwas im Western-Stil verfassen In diese Form goss Juliane Stadelmann einen Inhalt, der sie stark beschäftigte: Sie hatte "Die Kinder sind tot" gesehen, einen Dokumentarfilm über einen Fall von fahrlässiger Kindstötung in der Frankfurter Plattenbausiedlung Neuberesinchen. Im Juni 1999 schloss die 23 Jahre alte Daniela Jesse ihre zwei- und dreijährigen Söhne Kevin und Tobias in der Wohnung ein und ging zu ihrem Geliebten, der in der Nähe wohnte. Jesse kehrte erst vierzehn Tage später zurück. Ihre Kinder waren mittlerweile verdurstet. "Der Fall ging groß durch die Medien. Die Regisseurin Aelrun Götte ist nach der Verurteilung in dieses Viertel gefahren, hat Nachbarn und die Mutter der Täterin befragt, bis sie am Ende sich im Gefängnis anhört, was Daniela Jesse zu sagen hat. Der Film wirft die Frage auf, wie es dazu kommen konnte, dass die Kinder allein nebenan waren und keiner ihnen geholfen hat. Es scheint, dass die Menschen dort nach anderen Parametern leben. Das eigene Zeit- und Raumgefühl wird durch den Film merkwürdig verzerrt. Es wirkt alles sehr absurd."

Albtraum der Verantwortung

Ein gutes Stück weit ist "Noch ein Lied vom Tod" absurdes Theater geworden, in dem die Einheit von Zeit und Raum durcheinandergewirbelt wird und die Kommunikation ins Leere läuft. Udo ermittelt im Fall zweier toter Kinder und trifft auf Menschen, die ihm keine Auskunft geben wollen, darunter der kleine Tom, der genauso verwahrlost aufwächst wie die halbstarken Tackenförster und Ottenzwerg. Udo lernt auch zwei Frauen kennen, zunächst Bestatterin Clara, die stets mit dem Leichenwagen unterwegs ist. In einem der Monologe, die sich mit den rasant geführten Dialogen abwechseln, erzählt Clara von einer langen Whiskey-Nacht, nach der sie ihren Job als Erzieherin an einer Kinderkrippe verlor. Von einem Albtraum der Verantwortung berichtet Nadine, die mit Udo anbandelt: "Ich habe geträumt. Heute Nacht hab ich geträumt, ich hätte ein Kind. Jemand hat es mir in den Arm gedrückt. Und ich dachte nur so: Scheiße …" Märchenhaft führt ihr Traum zu einem Haus im Wald und zu einem Mann, vor dem sie wegrennt: "Als ich zurück bin, raus aus dem Wald, in dem hellen Zimmer, da ist das Kind fort." Ein Phantomgefühl, das Kind in ihren Armen, bleibt bestehen.

Irgendwie hat hier jeder was verloren, die Kinder ihren Anstand, die Erwachsenen ihren Antrieb. Ihr Umfeld ist eine Geisterstadt im zerfallenen Plattenbaukleid. Auch wenn behauptet wird, dass die kahlen Stellen der Siedlung begrünt werden sollen und ein Pavillon errichtet werde, passiert lange Zeit nichts. Bis der Pavillon mit Hilfe von Udo gebaut wird, jedoch bei einem Sturm sofort wieder einstürzt. Kneipenwirt Hans wird von einer weißen Stange durchbohrt. Der Tod beginnt, sein Lied zu spielen.

Theater darf witzig sein!

Das Thema "Aufbau Ost" will Juliane Stadelmann hier nicht reflektieren: "Das könnte auch ein Vorort von München sein. Mir ging es um dieses absurde Parallel-Universum, das nur 10 Kilometer von uns weg ist." Mit ihrer Heimat – sie wurde 1985 in Salzwedel im Nordwesten Sachsen-Anhalts geboren – beschäftigte sie sich in ihrem vorherigen Stück: In "Ingrid Ex Machina" müssen Chefin und Belegschaft der fiktiven ostdeutschen Kerzenfabrik Sandelshausen miterleben, wie es ist, wenn eine Firma von westlichen Investoren übernommen wird. Das tragikomische Stück war eins von dreien, die 2013 den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik in den Kammerspielen gewannen.

Die Lust am verbalen Schlagabtausch steckt auch in "Noch ein Lied vom Tod": "Ich finde, dass Theater witzig sein darf und dadurch auch nicht an Anspruch verliert. Viele Menschen lassen Inhalte, die durch Witze codiert werden, eher an sich ran. So kann man Tempo erzeugen und mit dem Publikum spielen: Es muss lachen, und dann bleibt das Lachen im Halse stecken, weil alles eigentlich gar nicht lustig ist." Stadelmann lässt im Stückverlauf immer mehr Figuren hops gehen und erzeugt, plötzlich Science-Fiction-haft, eine Zeitschleife: Tackenförster und Ottenzwerg schlagen sich am Tatort gegenseitig tot, ihre Körper werden von Clara im Leichenwagen herumgefahren. Sind sie die Opfer, von denen das Stück von Anfang an handelt? "Ja, für mich sind sie die beiden kleinen Jungs, die verdursteten", stellt Stadelmann fest.

Ein Held unserer Tage?

Wer Schuld hat, lässt sich nicht einfach bestimmen. Kommissar Udo steht am Ende völlig verwirrt im Ungewissen: "Er kommt als rechtschaffener Tatort-Kommissar herein und man denkt, er ist der Anker und bringt die Wahrheit zu diesen merkwürdigen Menschen. Aber am Ende fragt man sich, ob er nicht aus der seltsamen Welt kommt und die echte ist die der Plattenbauten, wo die richtigen Gesetze herrschen." In verschiedenen Welten – natürlich nur in richtigen – hat sich Juliane Stadelmann bislang aufgehalten. Nach dem Abitur arbeitete sie als Surflehrerin in Frankreich und auf Hawaii, studierte danach an der Schauspielschule Charlottenburg in Berlin: "Ich habe gemerkt, dass ich zwar gerne spiele, aber mir nicht vorstellen kann, als Schauspielerin zu leben. Bei der Abschlussprüfung auf der Schauspielschule habe ich für den theoretischen Teil ein Theaterstück geschrieben, aus dem ich eine Szene zur Bewerbung ans Deutsche Literaturinstitut Leipzig schickte." 

Mit den ersten Seiten von "Noch ein Lied vom Tod" bewarb sie sich erfolgreich für das Hans-Gratzer-Stipendium, das vom Schauspielhaus Wien vergeben wird. Dort wird das Stück in der nächsten Spielzeit gezeigt – die erste Uraufführung eines Stücks von Juliane Stadelmann. Dann wird das Tumbleweed auf der Bühne seine Western-Reime schmieden und womöglich musizieren. "In einer frühen Fassung sang es Lieder von Tom Waits. Das Stück hat sich von dieser Idee wegentwickelt, aber der kleine Tom ist für mich weiterhin eine Spiegelung: Er sagt zu Udo einmal, dass sein Vater eines Tages aus der Wohnung ging und einfach verschwand. Ähnlich soll das bei Tom Waits gewesen sein."

Mit dem Gedanken, dass der kleine Tom und Kommissar Udo sich zum Finale duellieren, hat Juliane Stadelmann ebenfalls gespielt. Und lässt Tom zuletzt mit Udos Waffe in die Luft schießen. Der Showdown bleibt aus. Udo stirbt nicht und reitet auch nicht in den Sonnenuntergang, sondern zündet sich eine Zigarette an. Ein Held unserer Tage? Charles Bronson würde sich im Grab umdrehen.

 

 Lesung von "Noch ein Lied vom Tod" am zweiten Tag des Autorenwettbewerbs, 4. Mai, um 14 Uhr, im Alten Saal.

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