Gewaltiges Raumschauspiel

Heidelberg, 4. Mai 2014. Ulf Schmidt wurde zum Abschluss des Heidelberger Stückemarkts mit dem Autorenpreis für sein Stück Der Marienthaler Dachs ausgezeichnet. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert und wird zum einunddreißigsten Mal vergeben. Pipsa Lonka, Autorin aus dem diesjährigen Gastland Finnland, erhält für These little town blues are melting away, das beim finnischen Autorentag vorgestellt wurde, den Internationalen Autorenpreis. Der JugendStückePreis geht an Animal Farm nach dem Roman von Georg Orwell in der Produktion von Showcase Beat Le Mot. Neben dem Preisgeld erhält die prämierte Produktion zusätzlich ein Gastspiel im Rahmen der Kooperation bei den Mülheimer Theatertagen NRW gezeigt. 

Mit dem PublikumsPreis ausgezeichnet wurde der finnische Autor Juha Jokela. Sein Stück Der Patriarch erhielt die meisten Stimmen der Zuschauer, die im Anschluss an die Lesungen in geheimer Wahl über ihre Favoriten abstimmen konnten. Nominiert für den PublikumsPreis waren drei finnische und sieben deutschsprachige Stücke. Und der diesjährige NachSpielPreis geht an Eine Schneise von Händl Klaus in der Inszenierung von Stefan Otteni vom Staatstheater Nürnberg. Der undotierte NachSpielPreis ist verbunden mit einer Gastspieleinladung zu den Mülheimer Theatertagen NRW, "Eine Schneise" wird 2015 im dortigen Rahmenprogramm gezeigt werden.

Die Jury

Mitglieder der Jury in diesem Jahr waren die Regisseurin Anna Bergmann, der Theaterkritiker Vasco Boenisch, Erich Sidler, Regisseur und designierter Intendant des Deutschen Theaters Göttingen, der Dramatiker Bernhard Studlar sowie Jürgen Popig, Leitender Schauspieldramaturg in Heidelberg und Künstlerischer Leiter des Heidelberger Stückemarkts. Außerdem wurde die Jury für die Vergabe des JugendStückePreises von sechs theaterbegeisterten Jugendlichen unterstützt, deren Votum sich die Jury gerne anschloss. Jurorin für den NachSpielPreis war die Kulturjournalistin Barbara Behrendt, Jürgen Berger wählte als ehrenamtlicher Kurator die nominierten Inszenierungen aus.

Die Preisgelder 

Der AutorenPreis des Heidelberger Stückemarkts wird seit 2008 von der Manfred Lautenschläger-Stiftung ausgelobt und ist mit 10.000 Euro dotiert. Der Internationale AutorenPreis mit 5.000 Euro wird vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg finanziert und wird an einen der Autoren des Gastlandes vergeben. Der 2012 erstmals vergebene JugendStückePreis ist mit 6.000 Euro dotiert und wird gestiftet durch die Volksbank Kurpfalz H & G Bank – zusätzlich wird die prämierte Produktion im Rahmen der Kooperation bei den Mülheimer Theatertagen NRW gezeigt. Stifter des mit 2.500 Euro dotierten PublikumsPreises ist der Freundeskreis des Theaters und Orchesters Heidelberg.

Jury-Begründungen

Vasco Boenisch würdigt in seiner Laudatio den Marienthaler Dachs als gewaltiges Raumschauspiel wie folgt:

Es war irgendwie ein animalischer Stückemarkt 2014. Nicht nur wegen der trabenden Rentiere auf dem Werbeplakat... Vom tierischen "Personal" in Pipsa Lonkas "These little town blues are melting away" war ja bereits die Rede. Und auch im Autorenwettbewerb wurden in den präsentierten Stücken mal ein Chinchilla gestohlen (wie in Nolte Decars "Das Tierreich"), mal ein Rehkitz erschossen (wie in Daniel Foersters "Tanzen! Tanzen!"), mal ein Frosch aufgeblasen (wie in Juliane Stadelmanns "Noch ein Lied vom Tod"). Aber dass ein ganzes Dorf einem Tier huldigt, das gab bzw. gibt es nur bei Ulf Schmidt. Dies nur als kurze Vorbemerkung.

"Der Marienthaler Dachs" ist – der Dachs von Marienthal. Einem kleinen Ort in einem Niemandsland, in dem nichts mehr passiert, weil keiner mehr Geld, niemand mehr Arbeit und auch kaum noch einer was zu essen hat. Ein toter Ort. Ein Gegenwartsort.

Alles, worauf die Menschen hier ihre Hoffnung setzen, ist der besagte Dachs (auch wenn ihn noch keiner gesehen hat). Er ist ihr Orakel, dem sie treuherzig ihr ganzes Hab und Gut opfern für einen Fingerzeig raus aus der Krise: "Kniet nieder und verneigt euch zum mächtigen Dachs..."

Das klingt zunächst nach Märchen. Nach Schauermärchen, vielleicht. Aber vor allem ist Ulf Schmidts kolossales Drama "Der Marienthaler Dachs" eine gallige Satire auf unsere wankende Weltordnung. Denn dieser Dachs hat natürlich ein gänzlich unbehaartes Vorbild. Und das wohnt in Frankfurt. Und schreibt sich mit "x".

Mit irrwitziger Konsequenz entwirft Ulf Schmidt ein Dorf aus lebendigen Allegorien. Das Gasthaus ist "die Wirtschaft", in der das "Milchmädchen" die Rechnungen kassiert. Der Dorfplatz ist der "freie Markt", und um ihn herum leben ein "Vater Staat" und eine "Mutter Konzern", und ein „Dieter Oben“ repräsentiert als Bürgermeister eben: die da oben. "Andi Arbeit" trägt seine Bestimmung genauso lautmalerisch im Namen wie der anonyme "kleine Mann", an den sich immer alle ran wanzen wollen. Um nur einige Vertreter der Marienthaler Weltwirtschaftsordnung zu nennen. – Mit diesem scheinbar kindlichen Kniff gelingt Ulf Schmidt ein ganz eigenes, kunstvolles Spiegelbild unserer Gesellschaft. Und er beweist nicht zuletzt guten Humor.

Stilistisch ist "Der Marienthaler Dachs" ein Opus Magnum im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Ulf Schmidt entwirft oft sechs, sieben, manchmal fast bis zu einem Dutzend parallel verlaufender Dialog-Stränge. Die Handlung findet simultan an unterschiedlichen Orten des Dorfes statt, das vom aufführenden Theater – vermutlich am besten in einer großen Halle – entsprechend aufgebaut werden muss. Die Zuschauer wandeln zwischen den Orten hin und her (von Haus Pleite bis zum Dachsturm), werden im besten Fall selbst Teil der Dorfgemeinschaft. Und erleben hautnah den Mangel an Lebensmitteln, die gegenseitigen Schuldzuweisungen, die Bedrohung durch die berstende Scheiße-Tal-Sperre, die das Dorf dem Untergang preiszugeben droht, und schließlich die Entzauberung des Dachses (wörtlich: "die Grenzen des Dachsturms") – und wie vermutlich doch wieder eine neue Weltordnung auf den gleichen Lügen und Bequemlichkeiten errichtet wird.

Was Ulf Schmidt hier mit großem Können und Sprachbewusstsein entwirft, ist ein gewaltiges Raumschauspiel, aber auch ein vielschichtiges literarisches Werk. Vom antiken Chorgesang bis zur Mauerschau, von Jelinek’schen Kalaueriaden bis zu volkswirtschaftlicher Debatten-Rhetorik (wie sie uns täglich im Wirtschaftsteil oder Feuilleton begegnet) steckt dieser "Marienthaler Dachs" voller dramatischer Fundstücke. Dabei behandelt das Stück – auch wenn es seinen Ausgang nimmt in einer soziologischen Studie aus dem Jahr 1933 – genau jene Fragen zum Wandel unserer Arbeitswelt und zur Rolle des Menschen zwischen Schöpfung und Wertschöpfung, die wir uns heute stellen. Wer hat die Macht: die Wirtschaft? die Politik? Wer ist das Volk? Und wo in dem Ganzen befinde ich mich?

Ulf Schmidt tut dies mit Süffisanz und Sarkasmus, aber auch mit genauer Beobachtungsgabe. Und mit Phantasie und sehr viel Spielfreude. Sein Stück ist ein fulminantes Kunst-Werk aus Fabel, Parabel und Diskursmasse. Vergnügen für Stilisten, Mitdenker – und gleichzeitig eine Herausforderung für alle Theater. Wir hoffen, dass sich eine Bühne findet, um dieses Mammutwerk Wirklichkeit werden zu lassen. Auf dass möglichst viele in diese Welt eintauchen können und den Marienthaler, und vielleicht auch den Dachs-/DAX-Anbeter, in sich entdecken.

Bernhard Studlar würdigt Pipsa Lonkas Stück These little town blues are melting away als eine stille, traurige, tragikomische Geschichten über den Verlust von Heimat und den Trost, den die oder der Einzelne wo und bei wem auch immer finden kann. "Trostmöglichkeiten gibt es viele in diesem Drama. Wobei, es ist eben kein herkömmliches Theaterstück, nein, vielmehr hat Pipsa Lonka eine 'Bühnenerzählung' geschrieben, deren Figuren uns an die Filme von Kaurismäki denken lassen, ebenso wie uns der Erzählgestus an Stücke von Peter Handke erinnert. Aber genug der Vergleiche. Dieses Werk hat es nicht nötig, durch solche Namensnennungen geadelt zu werden. Es steht für sich und behauptet eine eigenwillige künstlerische Form, die eine große Herausforderung darstellt für die Übertragung auf die Bühne. Kein einfacher Text, der sich mehr oder weniger von selber auf die Bühne bringt. 'These little town blues' ist poetisch und kritisch. Irgendwie aus der Zeit gefallen und trotzdem heutig."

Die Kinderjury hat sich für Showcase Bear le Mots Performance Animal Farm entschieden, weil sich darin "neue Dimension von Raum, Zeit und Ort wiederfanden. In der Ruhe von der bewegten, chaotischen Zivilisation. In einer Trance aus futuristischem Tanz und Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung aufzustehen, zu gehen, zu schauen. Sich durch die dargestellten Identitäten zu bewegen, die mal Schaf, mal Hund, mal Schwein oder auch eine Krake im Wald waren. Museum im Theater. Ein linearer Handlungsstrang kulminiert mit Abstraktion. (...) Das Stück hat uns Platz für unsere Fantasie gelassen, die uns einredete, das Stück handle von dem Überwachungsstaat, der kubanischen Revolution oder einfach von Revolutionen im Allgemeinen. Diese Besonderheit in Form, Gestaltung und Thema hat uns entscheiden lassen, 'Animal Farm' den JugendStückePreis zu geben."

Und Erich Sidler lobt das mit dem NachwuchsPreis ausgezeichnete Tanzen! Tanzen! von Daniel Foerster als das Portrait von sechs Figuren, die im reizüberfluteten metropolitanen Leben aufeinanderprallen. "Alle suchen sie nach Anerkennung, nach Aufmerksamkeit und Zuneigung. Die zufälligen Begegnungen bringen jedoch die Verlorenheit zutage und offenbaren Überforderung und Aggression. Ausgehend von der eigenen Analyse ihrer Leere, versuchen sie ihr Leben zu stimulieren und verlieren sich dabei selber aus dem Auge. Der Tanz auf dem Vulkan ist absorbierend und lässt keine Alternativen zu. Mit Leichtigkeit und Raffinesse gelingt es dem Autor, ein Lebensgefühl einzufangen, was geprägt ist von einem hohen Druck an Erwartung und Normierung. Mit diesem Preis will die Jury das Talent des Autors publik machen und hofft, Theater dazu bewegen zu können, dieses Stück zu spielen und den Autor zu beobachten." 

 

 

 

You have no rights to post comments