Aufruhr im Coaching-Seminar

von André Mumot

Heidelberg, 2. Mai 2013. Jetzt dreht es sich schon eine ganze Woche lang, das Heidelberger Festivalkarussell, und wer das Glück hat, jeden Tag darauf gesessen und so ziemlich jede Aufführung gesehen zu haben, ertappt sich vielleicht inzwischen dann und wann bei einem leichten Schwindelgefühl, weil plötzlich etwas vor einem auftaucht, an dem man doch gerade erst vorbeigerauscht ist. So wie sich hier, im Zwinger, noch einmal der Gasoline Bill-Saloon wie wild und zu mitreißender Musik um die eigene Achse dreht, immer weiter, immer im Kreis. Nein, Moment: Diesmal ist es kein halbes Westernhaus, sondern ein nur von Lichterketten eingefasstes Hotelzimmer, das von zwei Darstellern angeschoben wird, während die Dritte darin ihren großen Song schmettert. Man freut sich trotzdem.

Und wie beim herrlichen Archiv des Unvollständigen am Dienstag und beim komplexkomischen Pollesch vor zwei Tagen und beim selbstherrlich lärmenden Goldenen Zeitalter gestern wird auch hier oft und immer wieder übers Theater selbst geredet. Auch in "Die Kunden werden unruhig" sprechen die Schauspieler von sich als Schauspielern und kommentieren beschreibend ihre Rollen, begrüßen das Publikum persönlich, steigen in die Reihen und reichen am Schluss Sektflaschen rum.

Mit Bankomaten-Phobie

Das Stück, das sich dabei en passant entwickelt, ist nicht mehr als eine Versuchsanordnung mit scheinbar ungewissem Ausgang, die Autor Johannes Schrettle gleichwohl mit hämischer Heimtücke ausgetüftelt und ins abgründig Absurde getrieben hat: Ein von einem vermeintlichen Überfall traumatisierter "nervöser Bankangestellter" und die weibliche "Führungskraft", mit der er ein recht verkrampftes Sex-Verhältnis pflegt, landen zwecks Wiedereingliederung in die Unternehmensstruktur auf dem Coaching-Seminar einer Bankomaten-Phobikerin.

DieKundenWerdenUnruhig1 700 Uwe Lewandowski uSeminar-à-Trois in "Die Kunden werden unruhig" © Uwe Lewandowski

Dabei entwickeln sich die szenischen Details wie von selbst, die Verführungs- wie die Vortragsszenen, und wenn sich Dennis Pörtner bei einem nachgespielten Kundenberatungsgespräch in immer hysterischere Finanzmarktsrhetorik hineinsteigert, ist das nicht nur inhaltlich überzeugend, sondern auf ebenso konsequente Weis lustig wie die unkontrollierten Gewaltphantasien, mit denen die Sache schließt.

Survival-Spiel

Das alles, inklusive der Wildschweinhorden und der Hochwasser, mit denen das Tagungshotel von der Außenwelt abgeschnitten wird, sind eben nur Irrwitz-Einfälle, mit denen die Figuren sich selbst und ihr Theater über Wasser halten, so wie sich das Bankenunternehmen mit aller Macht am Leben erhalten muss, wenn die "unruhigen Kunden" ihr Vermögen nicht mehr anlegen vor lauter Krisenangst.

Nick Hartnagels Inszenierung feiert diese Freude am Survival-Spiel, am kreativen Auflösen und Neu-Zusammensetzen von Schwindel-Identitäten, in überaus entspannter Weise und Hand in Hand mit seinem einnehmend gut gelaunten Darsteller-Trio. Das ist alles andere als konzeptverkrampft, wirft sich einfach bloß mit Wonne in Handlungen und Haltungen, in große und in kleine Gesten, in Kapitalismus- und Schauspielkarikaturen, ohne je selbstgerecht zu werden – ja, ohne jemals bedeutsamer oder wichtiger sein zu wollen, als es ist.

Zum Gernhaben

Nach sieben Tagen auf dem Heidelberger Festivalkarussell bietet dieses in leichtfüßiger Cleverness wirbelnde Osnabrück-Gastspiel nur wenig, was man nicht schon einmal so ähnlich gesehen hätte – manches gerade erst, bei einer der vorherigen Umdrehungen –, und wird doch vom Publikum hörbar laut und lang gefeiert. Ein perfekter, tiefer oder nur besonders aufregender Großkunst-Abend ist das gewiss nicht, aber einer zum Gernhaben. Zum sehr Gernhaben sogar.

Die Kunden werden unruhig
Basierend auf 12 wahren Begebenheiten
von Johannes Schrettle
Uraufführung
Regie: Nick Hartnagel, Bühne: Lara Nikola Linnemeier, Kostüme: Linda Spörl, Imke Hingst, Dramaturgie: Hilko Eilts, Adrian Jager.
Mit: Andrea Casabianchi, Christine Diensberg, Dennis Pörtner Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theater-osnabrueck.de

 

 

 

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