Scherzartikel im Saloon

von André Mumot

Heidelberg, 30. April 2014. "Das ist gar keine stürmische Nacht an Deck des Seenotrettungskreuzers New Haven", stellt Bernhard Schütz fest und starrt fassungslos ins Publikum. "Das ist Heidelberg!" In der Tat: Der Stückemarkt hat sich seinen ersten Pollesch-Abend geleistet, hat den Bert-Neumann-Glitzervorhang rund um die Bühne im Marguerre-Saal gespannt und vor die erste Reihe den Aschenbecherständer gestellt, um den herum es sich trefflich darüber reden lässt, ob man sich nicht eigentlich frei machen muss von der Mitmenschlichkeit. Und darüber, dass man sich für andere und für sich selbst auch nicht immer abstrampeln muss, koste es, was es wolle: "Wir sind ja hier nicht in Gravity!"

Große Theater-Sause ohne Paradoxien-Scheu

Wie schön – es ist von allem was dabei an diesem Abend, Lacan und Zizek, Woody-Allen-Beziehungsdialoge aus "Manhattan Murder Mystery" und Finger, die in Bowling-Kugeln steckenbleiben. Es gibt zudem einen prima Western-Saloon, der nur ein halbes Haus ist, in dem der Mensch im Freudschen Sinne nicht mehr Herr sein kann (bzw. nicht mehr sein muss), und das man drehen kann wie eine tibetanische Gebetsmühle. Das wird auch getan, und zwar mit dem Textbuch darin, das vorher dem Souffleur abgenommen wurde – in der Hoffnung, dass sich so das Theoriegeflecht von selbst zu Ende spielt. Schließlich wollen die verschwitzt gebeutelten Darsteller sich auch mal um sich selbst kümmern und nicht immer nur stellvertretend die Emotionen der Zuschauer ausleben müssen. "Wenn hier oben jemand weint, wissen Sie, Sie müssen es nicht selber tun!", ruft Benny Claessens genervt, kurz bevor er in den Streik tritt.

GasolineBill1 700 LenoreBlievernicht xHerrInnen in der Western-Haushälfte: "Gasoline Bill" © Lenore Blievernicht

Frei sein wollen hier alle vom Mitgefühl, davon, das Liebesgegenüber als Mittel zur Selbstverwirklichung gebrauchen und überhaupt ein reiches Seelenleben haben zu müssen, damit sie so endlich unabgelenkt zum Fortschritt beitragen können. Wobei zugleich immer wieder in sehnsüchtiger Zwischentönerei aufscheint, wie traurig, wie wenig lebenswert so ein Leben wohl wäre. Wie auch immer: Es sprudelt fröhlich der Verflechtungs-Text ohne Paradoxien-Scheu ins Publikum, und "Gasoline Bill" wird zügig zur großen Theater-Sause, zu einem Spielfest, das mittelwitzig beginnt und bald schon in schreiend komische Dimensionen hochschaltet.

Launig kabarettistische Glanznummer

Da wirft sich dann eine fabelhaft echauffierte Sandra Hüller im lilafarbenen Saloon-Lady-Kleid auf dem Boden und krakeelt verzweifelt: "Ich habe kein Sexualleben! Ich brauche kein Sexualleben!" Dafür lohnt es sich schon. Oder dafür, dass sie im nächsten Augenblick auf allerhinreißendste Weise versucht, ihre Mitstreiter mit jämmerlichen Scherzartikeln zum Lachen zu bringen.

Der Münchner "Gasoline Bill" ist ein Gala-Pollesch, eine launig kabarettistische Glanznummer, in der der für die erkrankte Katja Bürkle eingesprungene Schütz schon mal hoch oben auf dem Kronleuchter hockt, der Glitzervorhang stürmisch flattert und die vier Diskutanten ihr Häuschen in rasendem Tempo um die eigene Achse drehen, angepeitscht von einer Musik, die unmittelbare Euphorie ins Heidelberger Publikum schwappen lässt.

Und wieder stellt er sich ein, dieser verrückte Effekt, den die besten Scherzartikel-Abende des routinierten Endlosproduzierers immer noch haben: Die Entfesselung von Albernheit und Quatsch, von Hysterie und Großschauspielerklamauk macht nicht bräsig und blöd, sondern wach und wacher für die abgefeimte Irritation, für das rasant ausgestoßene und mit lockerer Raffinesse verdichtete Gedankengestöber über allzu selbstverständliche Individualitäts- und Selbstbetrachtungsklischees. Lauter und lauter wird dabei das geisteserfrischte Lachen, was beweist, dass die vier Westernhelden auch den Heidelbergern ihre Emotionen keineswegs vollkommen abnehmen. Wäre ja auch noch schöner.

 

Gasoline Bill
von René Pollesch
Gastpsiel Münchner Kammerspiele
Regie: René Pollesch; Bühne: Bert Neumann; Kostüme: Nina von Mechow; Licht: Rainer Casper; Dramaturgie: Tobias Staab.
Mit: Bernhard Schütz, Benny Claesens, Sandra Hüller, Kristof Van Boven.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

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