Die postdramatische Chance der Autoren

von Hans-Thies Lehmann

April 2014. Nach 15 Jahren einer recht lebhaften Rezeption und nach 20 Übersetzungen von "Postdramatisches Theater" greife ich den Vorschlag, an dieser Stelle ein paar Reflexionen darüber beizusteuern, ob und in welcher Weise sich in dieser Zeit Funktion und Stellung des Autors gewandelt haben, gern auf. Skeptisch bin ich in Hinblick auf den in der Einladung angedeuteten "Einfluss" des Buchs auf die Theaterpraxis, sehe ich doch Theorie als etwas an, das danach kommt, auf Begriffe bringt, was von Künstlern zuvor kreativ erfunden wurde. Wenn "Postdramatisches Theater" dennoch mancherorts wie eine Art Poetik behandelt wird, so lag das gewiss nicht in der Absicht des Verfassers.

 

Zum zehnjährigen "Geburtstag" des Buchs 2009 war ich zu einem Vortrag nach Belgrad eingeladen und habe damals einige seit 1999 neue Tendenzen des Theaters in groben Zügen zu benennen versucht:

1. einen deutlicher angestrebten Dialog mit der Gesellschaft (mehr direkt politische Inhalte, nachdem die 1980er und 1990er Jahre mehr der Erkundung neuer Theatermittel gegolten hatten; verstärkte Neigung zum Dokumentarischen);

2. eine Tendenz zu chorischen Formen, wesentlich inspiriert durch Einar Schleef;

3. die gestiegene Bedeutung des Tanzes und choreographischer Aspekte der Inszenierung;

4. die gestiegene Bedeutung der Gruppen im Unterschied zur Dominanz der individuellen Regie-Persönlichkeit;

5. den Wunsch nach etwas, das ich "Theater des Sprechakts" nenne und in dem, vordergründig betrachtet, der Text, vor allem aber das sprechende Individuum, seine Präsenz, unter Verzicht auf viele theatrale Effekte ins Zentrum rückt.

Die Rolle des Autors hat sich bei all dem gewandelt, ist aber nicht etwa geschwunden.

Dramatische und postdramatische Vielfalt

Postdramatisches Theater gibt es, dies vorweg, auch mit dramatischen Texten, alten wie neuen. Alles hängt für das Theater von der Art seiner Theatralität ab, nichts oder doch sehr wenig von den Strukturen des benutzten Textes. Euripides oder Shakespeare sind postdramatisch inszenierbar, Heiner Müller oder Sarah Kane dramatisch. Es werden zudem weiterhin zahlreiche Theatertexte mehr oder weniger dramatischer Bauart geschrieben, es gibt eine beträchtliche Anzahl guter und sehr guter Autoren, die für das Theater schreiben – trotz des zu unterstellenden Aderlasses, den das Theater durch die Attraktivität von Medien und Film für Schreibbegabungen erleidet.

Welche Autoren den Test der Zeit bestehen werden, also auch noch, wenn ein, zwei Jahrzehnte oder mehr vergangen sein werden, das intellektuelle und ästhetische Interesse auf sich ziehen, kann allein die Zeit lehren. Denn daran ändert das postdramatische "Paradigma" – wenn man diesen Begriff trotz der Weite und Vielfalt postdramatischer Formen benutzen will – gar nichts: Sofern ein Autor in einer postdramatischen Theaterarbeit eine Rolle spielt und sich nicht beispielsweise auf die Formulierung und Dramaturgie von dokumentarischem Material zurückzieht, so ist es jetzt wie ehedem vor allem die Kraft und der Ideenreichtum seiner Sprache, die über den Rang und die Qualität des Textes entscheiden.

Ein historischer Exkurs

Nützlich ist die Erinnerung daran, dass die Gestalt des Autors nicht immer als die ehrfurchtsvoll bestaunte Inkarnation des schöpferischen Genies schlechthin galt, als die man ihn zumal seit dem 18. und 19. Jahrhundert angesehen hat. Die bis heute mit gutem Grund bewunderten poetischen Meisterwerke der Aischylos, Sophokles und Euripides zirkulierten zu ihrer Zeit gar nicht als Text, der Autor hieß charakteristischerweise "Chorodidaskalos", der Einstudierer des Chors: Die Bezeichnung deutet auf die vollständige Integration des Textes in die Theaterpraxis hin, sei er auch Gegenstand höchster Wertschätzung. Der Autor war der Regisseur. Die festen ebenso wie die wandernden Theatergruppen des 17. und 18. Jahrhunderts stellten Autoren an, Serienproduktion galt keineswegs als verächtlich – man denke an Molière oder Lesage.

Erst im Zuge dessen, was man als das eigentlich bürgerliche, das dramatisch-literarische Theater des 18. und 19. Jahrhundert bezeichnen kann, erhob man den Autor und das Wort des Dichters zum Alpha und Omega der Theaterkunst – nicht unbedingt zu deren Vorteil. Haben doch gerade extrem konservative Positionen vor 1933 und die Nazis danach immer wieder das vorzugsweise "erhaben" genannte Dichterwort verherrlicht und dessen autoritative Geltung polemisch gegen den Mimus des Theaters, seine freiheitlich-spielerische Dimension, in Stellung gebracht. Noch heute findet man in so mancher Theater-Diskussion den freilich meist bewusstlosen Rekurs auf derartige Positionen, wenn immer wieder die Ernsthaftigkeit des Autors gegen die angeblich oder auch wirklich beliebige Willkür der Theaterleute ins Feld geführt wird, Regieanmaßung gegen eine höchst dubiose Ethik der Texttreue.

Das neue (Selbst-)Bewusstsein des Theaters

Kunstfremd sind auch die Vorwürfe wegen Missbrauchs der großen Autornamen: Kein Theater hat die Verpflichtungen einer Text-Edition des "Hamlet" zu erfüllen. (Eine andere Frage ist das nicht nur rein juristische Problem, über das man lange streiten kann, ob und in welchem Grad Autoren Mitspracherecht bei den allerersten Aufführungen neuer Stücke haben sollen, so dass sie ihre eigene Theatervision erleben. Persönlich glaube ich, dass, aufs Ganze gesehen, Autoren sich selten einen Gefallen tun, wenn sie auf ihren eigenen Vorstellungen einer richtigen Präsentation ihrer Texte beharren.)

Das 20. Jahrhundert hat mit der alles erfassenden Verschiebung des Kulturbegriffs hin zur Dominanz von Fotos, Bildern, Filmen, digitalen und virtuellen Realitäten, elektronischen Texten und Kommunikation im Netz eine Schwächung der Position der Literatur mit sich gebracht. Sie gilt weniger denn je als die Dominante der Kultur. Das Theater seinerseits hat in dieser Epoche ein (Selbst-)Bewusstsein als Kunstart eigenen Rechts gewonnen, die, gewiss, auch eine Spielart literarischer Kommunikation darbieten kann – Tiefe der Poesie, Intensität des menschlichen Sprechens – aber eben nur als eine Spielart des Theaters unter anderen. Postdramatisches Theater ist Theater im Bewusstsein davon, eine Kunst sui generis zu sein – als Installation, als szenische Narration, als Stadtspaziergang, als Performance, als Tanz, als Tanztheater, als quasi-politische, aber ästhetisch motivierte Aktion, als Vorgang im Kunstraum oder im öffentlichen Raum, kurz: mit literarischer und poetischer Dimension oder ohne sie.

Das ist insofern eine neue Lage, als jahrhundertelang die Dichtung selbst, die Schönheit der Poesie, die Finesse der rhetorischen Mittel das entscheidende Medium darstellten, mit dessen Hilfe die im Theater erwünschte intensivierte Kommunikation zu erreichen war. Bis zur Heraufkunft des modernen Regietheaters um 1900 galt ja, mit nur wenig Übertreibung gesagt, Theater als Textrezitation plus schönem Bild, das wie der klassizistische "palais à volonté" mehr oder minder austauschbar blieb. So ruhte die Hauptverantwortung für die theatrale Kommunikation in der Tat auf der Affektübertragung durch Wort und Geste, auf der sprachlichen Kommunikation von Gefühlen, auf der poetisch-sinnlich verführerischen Gestalt der Ideen. Die Sprache blieb zentriert auf dramatischen Rollen-Text. Aber auch im Zeitalter nach der normativen Geltung des dramatischen Theatermodells bleibt die Manifestation der Sprachlichkeit als Wesen des Menschen etwas, das im Theater auf ganz exquisite Weise erfahrbar sein kann – mit jedem Sprechakt zwischen Performern und Zuschauern, der ja, noch bevor er überhaupt Bestimmtes aussagt, das In-der-Sprache-Sein des Menschen offenbart.

Eine Indiziensammlung

Wie Autoren heute diese Chance nutzen, steht, wie gesagt, dem Theoretiker nicht an vorherzusagen oder gar anzuleiten, sondern eher, es ex post auf Begriffe zu bringen. Vielleicht lassen sich immerhin Indizien andeuten.

– Schreiben heute hat die Chance, die Dichte, Poesie und rhetorische Darstellungskunst frei von den Zwängen der auf Intersubjektivität geeichten dramatischen Struktur zu entfalten.

– Theater hat "prädramatisch" mit Masken begonnen, so kann der Theatertext heute von dem Bewusstsein getragen sein, dass es kein Privileg des Theaters ist, die seelische Nuance ins Zentrum zu rücken (das "kann" Kino besser).

– Der Autor braucht nicht auf eine "Ausgestaltung" des Geschriebenen durch Spieler zu setzen, eher darauf, dass die letzteren den Text genau und engagiert mit-denken. So können Autoren die Möglichkeiten der Sprache nach dem Drama zu erkunden.

– Texte heute sind so zu denken, dass sie von den Spielern nicht "in Besitz genommen", sondern von ihnen eher als ein Material in den Raum der Theatersituation weitergeleitet werden sollen.

– Ist Theater Kunst der Geste mehr als des differenzierten Mienenspiels, so mag der Autor sich darauf besinnen, dass Mythen, Märchen, Legenden ohne postromantische "Seele" auskommen.

– Es können kollektive Subjekte in konfliktreiche Spannungsverhältnisse gerückt werden. Kein Realismusgebot verhindert mehr, das unbewusste und bewusste Inhalte nebeneinander stehen. Weiten Spielraum bietet postdramatisches Theater dem Akt der Erzählung, neuen Versionen des Epischen nach Brecht und über ihn hinaus.

– Die fast exklusive Konzentration auf die Theatertradition des 18. und 19. Jahrhunderts hat es mit sich gebracht, dass noch immer ein ungehobener Schatz an allegorischen Spielen etwa des Barock darauf wartet, dass seine politische und ästhetische Aktualität wieder zutage gefördert wird. Alles was es dazu braucht, wären réécritures, die die historisch bedingte schematische Sprachform aufzubrechen hätten.

– Denkt man Theater der Gegenwart wesentlich als Situation, so hat der Autor nicht so sehr Botschaften zu übermitteln als vielmehr den Text als ein Feld von Energien zu denken, an die andere Energien anknüpfen können – auch als ganz und gar sinnfreies Medium eines Körpertheaters.

Die kritische Funktion von Theater kann der Text jedenfalls nicht erreichen, indem er sich den Rezeptionsgewohnheiten der Medienkultur anpasst. Politisch kann er durchaus auch als Dokument fungieren: Der Theaterautor ist dann Sammler, Beobachter, kritischer Berichterstatter – Funktionen, die angesichts der unter dem Mantel fortdauernder "Kritik" (an Einzelphänomenen) in Wahrheit konformistischen Medienöffentlichkeit auch notwendig sind. Doch die eigentlich politische Dimension einer radikaleren "Kritik des Lebens" gewinnt der Theatertext heute mehr denn je auf einer anderen Ebene. Als Kunst der Sprache, als Teil der Theaterkunst, als Raum der Imagination anderer Beziehungen zwischen Menschen, also wie eh und je als Forschungstätigkeit an den Möglichkeiten des menschlichen Ausdrucks.

 

lehmann uni frankfurtHans-Thies Lehmann ist emeritierter Universitätsprofessor für Theaterwissenschaft an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt/Main und war dort führend am Aufbau des Hauptfach-Studiengangs Theater-, Film- und Medienwissenschaft beteiligt. 1999 erschien sein wegweisendes Buch "Postdramatisches Theater", dessen Titel binnen Kürze zu einem der grundlegenden Begriffe des Diskurses über zeitgenössisches Theater avancierte.

 

Kommentare   

+2 #4 Text & TheatralitätAutor 2014-04-30 08:44
"Alles hängt für das Theater von der Art seiner Theatralität ab, nichts oder doch sehr wenig von den Strukturen des benutzten Textes."
Das stimmt so nicht. Jelinek eignet sich doch besser für einen Theaterabend als eine Gebrauchsanleitung. Die Theatralität findet man auch schon im Text selbst, ist aber nicht gleichzusetzen mit Dramatischem.
So lese ich auch den (guten) Vorschlag an Autoren:
"Denkt man Theater der Gegenwart wesentlich als Situation, so hat der Autor nicht so sehr Botschaften zu übermitteln als vielmehr den Text als ein Feld von Energien zu denken, an die andere Energien anknüpfen können – auch als ganz und gar sinnfreies Medium eines Körpertheaters."
+1 #3 Theorie und PraxisTheatroop 2014-04-29 11:52
Ich glaube, Herr Lehmann, dass Sie irren, wenn Sie sagen, die Theorie bzw. Ihr Buch habe keine Rückwirkung auf die Praxis. Nicht nur, dass sehr viele Kreative heute aus den Schmieden des Postdramatischen kommen, aus den Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen und Hildesheim. Auch an anderen Positionen, in den Leitungsteams und Kritikerstübchen, sitzen viele Theaterwissenschaftler, die mit einer Vorstellung von Ihrem Buch im Kopf über Theater urteilen. Künstler sind nicht so frei, dass Sie sich von diesem Diskurs völlig abkoppeln könnten. Sie neigen dazu, marktkonforme Ware abzuliefern, und der Markt wird weniger vom Publikum als von eben diesen Wissenschaftlern an den Schaltstellen bestimmt. Ihr Buch hat somit ganz massiv die Theaterpraxis verändert. Ob das gut oder schlecht ist, weiß ich nicht. Es zu leugnen, ist falsch.
+2 #2 Ein interessanter UnterschiedTrulli 2014-04-17 11:09
Herr Gast (Peter? der Freund von Nietsche?),

es ist doch schon ein Unterschied, ob ich fürs Theater schreibe oder ein Buch. Beim Theater ist der Text nur Beiwerk für die szenische Aktion, er begleitet den Gestus und den Raum und suggeriert, dass ein bisschen Geist in der Flasche ist. Jedenfalls ist der Text nur eine Spur, und wer sich entscheidet fürs Theater zu schreiben, weiß das auch. Selbst Shakespeare dürfte das gewusst haben, falls er gelebt hat.

Ein Buch hingegen wird durch Fremdeinschübe von Moritz Rinke empfindlich geschädigt, falls es kein Buch von Moritz Rinke ist. Das Buch ist einfach, das verkennen Sie, Herr Gast, eine ganz andere Inszenierungsform. Ein Buch ist per se nicht postdramatisch, weil es nie dramatisch war. Ganz kurz gesagt: Theater ist Aktion und Raum, Buch ist Gedanke.
+3 #1 Eine interessante ErfahrungGast 2014-04-17 09:19
Zitat: "Persönlich glaube ich, dass, aufs Ganze gesehen, Autoren sich selten einen Gefallen tun, wenn sie auf ihren eigenen Vorstellungen einer richtigen Präsentation ihrer Texte beharren"
Es wäre für Hans-Thies Lehmann sicherlich eine interessante und auch hilfreiche Erfahrung, würde dessen Verleger sich aus freien Stücken entscheiden, das nächstes Buch des Herrn Professor mit Fremdinhalten zu verschneiden, einzelnen Passagen aus einem Stück von Moritz Rinke zum Beispiel. Das ganze natürlich ohne einen Hinweis auf dem Cover und ohne Rücksprache mit dem Autor.

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