Nichts als Wahrheit

von André Mumot

Heidelberg, 4. Mai 2014. Um Fragen der Autorschaft hat der Stückemarkt gekreist, darum, wie Texte, wie Aufführungen entstehen. Und nun, ganz zum Schluss, setzt er noch einmal nonchalant ein Wunder obendrauf, einen Abend, über den man eigentlich nur staunen kann. Weil es sich kaum glauben lässt, dass ihm keine literarische Vorlage zugrunde liegt, dass es sich tatsächlich um eine Projektentwicklung handelt, um einen dieser Yael-Ronen-Schätze, die sie gemeinsam mit ihren Darstellern hebt.

In ihrer Graz-Produktion "Niemandsland" geht es um ein israelisch palästinensisches Ehepaar, das es nur unter erheblichen Schwierigkeiten geschafft hat, den Repressalien in ihrer Heimat nach Österreich zu entkommen. Beide spielen sich hier selbst, und weil Jasmin Avissar eigentlich Tänzerin ist, haben einige ungeheuer kraftvolle, starke Tanztheatereinlagen Einzug gefunden in die Geschichten der Entwurzelten, die hier zusammengetragen wurden.

Schreiben über das Leid anderer

Aber da sind auch die hinzugefügten Figuren, die sich anlehnen an wahre Begebenheiten, an echte Erfahrungen: Wo soll man anfangen? Vielleicht bei dem ungeheuer ambivalenten und einsichtigen Moment, in dem ein traumatisierter Krisengebietsjournalist nach einem Zusammenbruch kurzzeitig in die Kulturredaktion verlegt wird und voller Abscheu einen Schauspieler interviewen muss, der seine Performance über die Gräueltaten im Ex-Jugoslawien bewirbt. Der selbstgefällig über Schrecken spricht und Kunst aus dem macht, was er nur vom Hörensagen kennt. Das ist ein Tema, das immer wieder auftauchte im Stückemarkt: Wie können wir schreiben oder spielen über das, was wir nur aus zweiter Hand kennen, wie auf Probleme hinweisen, ohne sie zugleich für die eigene Kunstgewerblichkeit zu missbrauchen?

Niemandsland1 700 Lupi Spuma uÜber Stiegen klettern, zwischen Welten steigen: "Niemandsland" © Lupi Spuma

Yael Ronen löst das Problem mit einer inhaltlichen und ästhetischen Sicherheit, mit einer so ausgeprägten szenischen Darstellungs- und Diskussionsintelligenz, dass sie mühelos scheinbar jedes andere gegenwartsbezogene Relevanztheater hinter sich lässt. Dieser Abend, an dem die Figuren über schmale Stiegen auf und ab klettern und dann und wann von einer Welt in die andere steigen, ist ein Geschenk.

Nicht zuletzt durch Darstellerin Birgit Stöger, die für sich genommen das vielleicht größte Einzelerlebnis des Stückemarkts ist: Sie verkörpert eine verhärmt kettenrauchende Flüchtlingsfrau, die von den Misshandlungen und Vergewaltigungen ihrer Jugend eingeholt wird – ohne jede Künstlichkeit ist diese Darstellung, witzig sogar, dann wieder ganz still und matt und stumpf, nur um später mit einer bebenden, schrecklichen, grausam schonungslosen, atemberaubenden Leidensintensität aufzuflammen, die einem tief und schwer in die Magengrube fährt und hilflose Tränen in die Augen treibt, was nicht das Geringste mit Sentimentalität zu tun hat.

Ferne Konflikte im Nahbereich

Es geht um so vieles hier, aber kein Thema ist Yael Ronen zu groß, allem wird sie gerecht, während sie glasklar und mit großer erzählerischer Gelassenheit vorführt, wie es ist, wenn entfernte Konflikte einem unvermittelt nahe kommen. Dem Schauspieler zum Beispiel, dem plötzlich die Kriegsverbrechen seines Vaters sichtbar werden, und wie es denen ergeht, die versuchen, sie ein für allemal hinter sich zu lassen. Da ist kein falsches Pathos nötig, keine Sprachverkünstelung, keinerlei Mätzchen, nichts Billiges, nichts Wohlfeiles, nie. Bloß Wahrheit, Würde, Humor und Ernsthaftigkeit, menschlicher Anstand und inhaltliche Komplexität. Wer an den Möglichkeiten des Theaters gezweifelt hat, wer ihm schon nicht mehr viel zugetraut hat in der Betrachtung und Verarbeitung unserer Welt, der muss hier tief und demütig den Hut ziehen.

 

Niemandsland
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on Yael Ronen & Ensemble
Konzept und Text: Yael Ronen, Maryam Zaree, Regie: Yael Ronen; Bühne und Kostüm: Fatima Sonntag, Musik: Yaniv Fridel, Choreografie: Jasmin Avissar; Dramaturgie: Maryam Zaree, Regina Guhl.
Mit: Birgit Stöger, Seyneb Saleh, Jan Thümer, Sebastian Klein, Julius Feldmeier, Knut Berger, Jasmin Avissar, Osama Zatar.
Dauer: ca. 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielhaus-graz.com

 

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