Die Doofen, das sind immer die anderen

von Wolfgang Behrens

Heidelberg, 3. Mai 2014. Es gibt eine tolle Geschichte von Jorge Luis Borges, in der ein Literaturwissenschaftler das Gedächtnis Shakespeares angeboten bekommt. Der Mann ergreift die Gelegenheit beim Schopf – seine Erwartung freilich, mit Shakespeares Gedächtnis im Kopf auch schnellen Zugang zu einer Art Shakespeare-Datenbank erworben zu haben, wird schwer enttäuscht. Das übernommene Gedächtnis funktioniert nicht lexikalisch, die Erinnerungen lassen sich nicht fein säuberlich abrufen, sondern übermannen ihren neuen Träger auf organisch-chaotische Weise. Shakespeares Gedächtnis erweist sich so nur als schwere Alltagsbürde, und bald schon trachtet der Wissenschaftler danach, es wieder loszuwerden.

20000seiten 250h MatthiasHorn uIn der (Gedanken-)Blase: Tony
(André Kaczmarczyk) © Matthias Horn
Instrumentalisierte Opfer?

In seinem Stück "20 000 Seiten" hat der Schweizer Schriftsteller und Dramatiker Lukas Bärfuss diese Ausgangskonstellation variiert. Hier fällt dem harmlosen Zeitgenossen Tony eine Kiste mit Büchern auf den Kopf, deren Inhalt er daraufhin schlagartig und vollständig präsent hat – anders als bei Borges ist das Wissen tatsächlich wie auf Knopfdruck abrufbar. Doch auch Tony leidet unter seinem neuen Gedächtnis, denn es enthält (im doppelten Sinne) belastendes Material über das Verhalten der Schweiz in den Jahren nach 1939. Tonys Bestreben, die bedrückenden Fakten aus den Büchern wenigstens mit der Gesellschaft zu teilen und diese zu einer Reaktion auf die zum Teil erschütternden Geschichten aus jener Zeit zu zwingen, läuft allerdings ins Leere – was er zu erzählen weiß, das verdrängt man lieber.

Es sei dahingestellt, ob die Verknüpfung der berichteten Gräueltaten mit einer derart grotesk-witzigen Erzählkonstruktion glücklich ist. Es kann einen schon der Gedanke beschleichen, dass die Opferschicksale in Bärfuss' Story auf unangemessene Weise instrumentalisiert werden. Man könnte indes auch umgekehrt argumentieren, dass die Story nur das Instrument ist, um diese Schicksale wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.

Allergröbste Comedy-Karikaturen

Völlig indiskutabel jedoch ist, wie der Mannheimer Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski am Staatsschauspiel Dresden mit dem Stück umgegangen ist. Alle Figuren, auf die Tony trifft, um sein schreckliches Wissen zu teilen, werden von Kosminski als allergröbste Comedy-Karikaturen vorgeführt. Er arbeitet hier nach dem Prinzip: Die Doofen, das sind immer die anderen! Das beginnt schon bei der erschreckend unbedarften Art, in der die Inszenierung die Insassen der Psychiatrie zeigt, in die es Tony zu Beginn verschlagen hat: Ja, hihihi, so bekloppt sind die, so dämlich rollen die Plastikbälle durch die Gegend. Otto und Frieda Normalwurst dürfen ein Fest feiern, denn so sind sie ja nicht.

Und sie sind auch nicht so wie diese – hihi – peinlichen Aktivisten, wie dieser – hihi –peinliche Fernsehmoderator, wie diese – hahaha – peinlichen Castingshow-Teilnehmer, die so unterschichtenmäßig fett und so unfassbar schlecht angezogen sind. Kosminski demonstriert dem Publikum, dass es mit den Figuren des Stücks wirklich gar nichts zu tun hat, denn so doof kann man ja gar nicht sein. Dass die da auf der Bühne Probleme mit der Erinnerungskultur haben, ist ja klar – Gott sei Dank sind wir im Parkett anders! Konsterniert blickt man auf ein Theater der Ausgrenzung durch Stereotype.

Sowohl Borges' Shakespeare-Forscher als auch Bärfuss' Tony wollen am Ende nur noch eines: vergessen! Das ist ein Wunsch, dem man sich nach Ansicht dieser Aufführung unbedingt anschließen muss.

 

20 000 Seiten
von Lukas Bärfuss
Regie: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Ute Lindberg, Musik: Hans Platzgumer, Licht: Björn Gerum, Dramaturgie: Julia Weinreich.
Mit: Cathleen Baumann, Ines Marie Westernströer, André Kaczmarczyk, Torsten Ranft, Sascha Göpel, Anton Petzold.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Zum Inszenierungsporträt von Simone Kaempf